Der Rhein ist heute eine der bedeutendsten Schifffahrtsrouten und Lebensader für den Gütertransport der europäischen Wirtschaft. Containerschiffe und Lastkähne durchfahren im Minutentakt das befestigte Flussbett. Doch wer genau hinsieht, erkennt schnell, dass der Rhein nur noch wenig mit einem natürlichen Fluss zu tun hat und die Natur in weiten Teilen zurückstecken muss. Diese im wahrsten Sinne einschneidende Ingenieursleistung des 19. Jahrhunderts ist unweigerlich auf einen Mann zurückzuführen. Wer war er?
Johann Gottfried Tulla wird am 20. März 1770 in Karlsruhe als Sohn eines protestantischen Geistlichen geboren. Eigentlich hätte er auch Pfarrer werden sollen, doch sein mathematisches und technisches Talent wird frühzeitig erkannt und gefördert. Er wird bereits 1790 Geometer (Feldvermesser) im Dienste des Markgrafen von Baden, aber zur Vertiefung seiner Kenntnisse postwendend von seinen Aufgaben freigestellt. Nach dem Studium an der Bergakademie im sächsischen Freiberg und an der renommierten École polytechnique in Paris wird er in der Heimat mehrfach befördert. 1817 wird er zum Oberwasser- und Straßenbauingenieur ernannt.
Während seiner Lehrzeit befasst sich Tulla intensiv mit den Folgen der alljährlichen Hochwasser an Rhein, Neckar und einigen Nebenflüssen. Bereits 1780 wurde die Murg zwischen Gaggenau und Rastatt begradigt, weshalb Rastatt seither von Hochwassern verschont geblieben war. Im Winter 1801/02 überflutet der Rhein in Baden 252 Quadratkilometer Ackerland, was zu schweren wirtschaftlichen Einbußen führt. Tulla erkennt den großen Nutzen der ersten Kanalisations- und Flussbegradigungsprojekte und kommt zu dem Schluss, dass "in kultivierten Ländern die Bäche, Flüsse und Ströme Kanäle sein und die Leitung der Gewässer in der Gewalt der Bewohner stehen" sollten. 1809 legt er erste Pläne zur Rectification des Rheins vor. Von der Begradigung des Flusses verspricht sich Tulla vor allem eine Verbesserung des Hochwasserschutzes, eine Trockenlegung der Sümpfe und die Gewinnung von Acker- und Siedlungsflächen. Die Schifffahrt dagegen spielt in seiner Argumentation nur eine untergeordnete Rolle. Obwohl seine Pläne auf den Widerstand vieler der anliegenden Gemeinden stoßen, die wirtschaftliche Nachteile befürchten, und auch zu Querelen mit Frankreich, Preußen und Hessen führen, setzt sich Tulla schließlich durch. 1817 beginnen die Bauarbeiten.
In Knielingen nördlich von Karlsruhe erfolgt der erste sogenannte Durchstich einer der zahlreichen Flussschleifen. Dabei wird mit Schaufeln und reiner Muskelkraft ein nur 25 Meter breiter Verbindungsgraben ausgehoben, die Schleife gestaut und der Fluss in den neuen Graben umgeleitet. Nach Tullas Berechnungen soll die Wasserkraft den Graben auf 240 Meter Breite ausschwemmen und ein neues Flussbett bilden. Nach und nach verlandet die alte Schleife. Dämme an den Kanalflanken sollen zudem das Umland schützen. Das Vorhaben gelingt, obwohl Tullas Kalkulationen auf reinen Schätzwerten beruhen und das gesamte Projekt aus heutiger Sicht äußerst gewagt war.
Nach dem erfolgreichen Durchstich bei Knielingen wird der Rhein zunächst weiter bis Mannheim, dann ab 1840 zwischen Karlsruhe und Basel begradigt. Als das gewaltige Vorhaben 1876 vollendet wird, ist der Flussabschnitt zwischen der Schweizer Grenze und Worms um 81 Kilometer verkürzt worden. Tulla erlebt die Fertigstellung seines Lebenswerkes nicht mehr. Er verstirbt bereits am 27. März 1828 in Paris, nach einer Operation zur Entfernung von Blasensteinen. Sein Grab auf dem Friedhof Montmartre wird vom badischen Staat auf ewig gekauft.
So lautet Tullas Leitspruch. Durch die Begradigung des Flusses wird die Überschwemmungsgefahr am Oberrhein deutlich reduziert. Große Siedlungs- und Ackerflächen entstehen und die einst verbreiteten Fieberkrankheiten wie Malaria und Typhus gehen zurück. Betrachtet man außerdem die Entwicklung der Rheinschifffahrt, die mit der Schiffbarmachung bis Basel ab 1907 neue Dimensionen erreicht, oder die Energiegewinnung aus Wasserkraft, die ohne die Begradigung nicht möglich wäre, behält Tulla mit seinem Motto zweifelsohne Recht.
Doch die Begradigung des Stroms stellt auch ein massiver Eingriff in die Landschaft dar, der mitunter negative Folgen für die Ökologie hat. Die Fließgeschwindigkeit des Rheins steigt und damit auch die Tiefenerosion im Flussbett. In Folge dessen sinkt der Grundwasserspiegel, Brunnen müssen vertieft werden, die Rheinfischerei stagniert zunehmend und die Auenwälder sterben ab. In den folgenden Jahrzehnten geht die Artenvielfalt am Rhein deutlich zurück. Die Kanalisierung des Flusses erhöht auch die Hochwassergefahr weiter flussabwärts, wie bereits Kritiker des Projekts im 19. Jahrhundert befürchten.
Seit den 1980er Jahren werden deshalb zahlreiche Ackerflächen am Oberrhein zu weiträumigen Poldern umgebaut. Bei Hochwasser können sie geflutet werden, um die Dämme und die überschwemmungsgefährdeten Flussabschnitte – insbesondere im Raum Köln – zu entlasten. Die Ökologie des Rheins hat sich seit 1817 grundlegend verändert. Es bleibt weiterhin Aufgabe unserer Generation, Natur und Wirtschaft am Rhein in Einklang zu bringen.