Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb ist der erste Ort im nationalsozialistischen Deutschland (und auf der Welt), an dem Menschen „industriell“ ermordet wurden. Grafeneck war die erste Mordfabrik, hier gab es ein durchorganisiertes Mordverfahren - das schwerste aller Verbrechen geschah wie am Fließband. In Grafeneck begann damit der Holocaust, denn hier übten die Täter das Morden. Die Mordmethode von Grafeneck – Giftgas – wurde später in den nationalsozialistischen Todeslagern wie Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Sobibor und Belzec millionenfach angewandt. Viele der Täter von Grafeneck waren auch dort beteiligt.
Von Januar bis Dezember 1940 starben in Grafeneck zwischen 10.500 und 11.000 Menschen durch Kohlenmonoxidgas. Die Opfer stammten aus Krankenanstalten und Heimen im heutigen Baden-Württemberg, in Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Die meisten waren physisch oder psychisch krank oder beeinträchtigt.
Doch was in Grafeneck geschah war nicht allein eine Idee der Nationalsozialisten. Schon jahrzehntelang forderten Ärzte den Tod von behinderten Menschen. Sie begründeten das im Kern mit den Kosten, die die Behinderten verursachten und die sie, die Ärzte, einsparen wollten. Damit hatten sie das Gedankengut vorbereitet und verbreitet, das die Nationalsozialisten in die Tat umsetzten. Dieses Gedankengut und die nationalsozialistische Diktatur waren Voraussetzungen für die Morde von Grafeneck. Eine weitere Voraussetzung war der Krieg. Erst unter den Bedingungen des Krieges war der Massenmord möglich. Der Krieg bot genügend „Ablenkung“, in seinem Schatten ließ sich vieles verbergen. Der Krieg gab den vorhandenen menschenverachtenden Argumenten für den Massenmord eine neue Dynamik: es konnte doch nicht sein, dass die „Besten des Volkes“ an den Fronten litten und starben, während „lebensunwerte Ballastexistenzen“ Nahrungsmittel verschlangen, Häuser beanspruchten, die sich hervorragend für Lazarette eigneten, und zudem noch Ärzte und Pflegekräfte banden, die, anstatt wertvolle Dienste zu leisten, ihre Arbeitskraft für „seelenlose Menschenhülsen“ vergeudeten.
Für 200.000 Menschen in den Krankenanstalten und Heimen war das Zusammentreffen von Gedankengut, Nationalsozialismus und Krieg tödlich. 200.000 Menschen – denn die Nationalsozialisten mordeten nicht nur in Grafeneck, sondern auch im Zuchthaus Brandenburg, in der sächsischen Heilanstalt Pirna-Sonnenstein, in der Pflegeanstalt Schloss Hartheim bei Linz, der Landesheilanstalt Bernburg bei Magdeburg und der hessischen Landesheilanstalt Hadamar. Zudem ließen sie in vielen anderen Anstalten und Krankenhäusern Kranke verhungern oder mordeten sie durch Giftinjektionen.
Das Todesurteil wurde vor 70 Jahren gesprochen: auf den 1. September 1939 und damit den ersten Tag des Krieges ist Hitlers „Ermächtigungsschreiben“ datiert, mit dem er die Morde in Auftrag gab. Am 18. Januar 1940 begann in Grafeneck das Morden.
Martin Bader war Schumachermeister und Familienvater aus Giengen an der Brenz. Ein fröhlicher, lebenslustiger Mann, wie sich aus einigen seiner eigenen schriftlichen Erinnerungen ablesen lässt. Allerdings wurde er schon in jungen Jahren von einer schweren Krankheit – Parkinson, also Lähmungen und unkontrollierbares Zittern – heimgesucht. Diese Nervenkrankheit wurde damals in Psychiatrischen Anstalten behandelt - wobei es keine Heilung und auch kaum Linderung gab. So aber kam Martin Bader erst für kurze Aufenthalte, schließlich auf Dauer in die Psychiatrie und von dort in die Mordfabrik.
Geboren wurde er am 20.11.1901 in Giengen an der Brenz (auf der Schwäbischen Alb) als Sohn des Fabrikarbeiters Johannes Bader und seiner Frau Margarete, geb. Geyer, von Beruf Hausfrau. Das winzig kleine Geburtshaus steht noch heute an der Kirchplatzecke. Dort lebte er mit seinen Eltern und sechs Geschwistern.
Im Frühjahr 1915, nach Absolvieren der Volksschule, begann Martin Bader eine Schuhmacherlehre in Giengen. Die Lehre dauerte 3 Jahre, danach ging er auf die Walz.
Er heiratete 1925 in Aschau die „Bräumeister-Marie“, die er auf der Walz in Bayern kennen gelernt hatte. Sie bekamen bald zwei Mädchen und einen Buben.
Martin Bader übernahm ein Schumacher-Geschäft in Giengen an der Brenz, Großdeutsche Freiheit 5, und legt die Meisterprüfung ab.
Ab 1926 hatte er dann das Nervenzittern in der linken Körperhälfte. Er nahm an, es sei die Folge einer Kopfgrippe von 1918. Es war aber Parkinson. Er ging für mehrere Wochen in die Psychiatrische Klinik in Tübingen.
Er konnte bald nicht mehr in seinem Handwerk arbeiten, begann einen Handel mit Seifen bis zum August 1930. Im August kam er wieder in die Nervenklinik nach Tübingen. Dort war er in den folgenden Jahren immer wieder.
1930 schrieb er einen ausführlichen Lebenslauf mit Erinnerungen in ein Oktavheft. Sein Sohn hat dieses Heft. Es ist sein wertvollstes Erbe des Vaters.
Im September 1938 wurde Martin Bader in die Psychiatrie nach Schussenried eingewiesen, die bald für viele Menschen eine Zwischenstation auf dem Weg nach Grafeneck werden sollte. Er schrieb viele Briefe aus Schussenried, er wollte raus, er litt, er hungerte, er fror.
Die letzte Nachricht ist eine Postkarte vom 1. Mai 1940, mit der er sich für ein Paket bedankte.
Am 27. Juni 1940 erhielt seine Frau einen Trostbrief aus Grafeneck. Ihr Mann sei an einem Hirnschlag gestorben und eingeäschert, sie könne die Urne haben. Sie ließ sich die Urne schicken, auch wenn sicher nicht seine Asche darin ist, und beerdigte sie in Giengen.
Martin Bader am 14.06.40 von Schussenried nach Grafeneck gebracht und gleich ermordet worden. 624 Kranke der Anstalt Schussenried wurden insgesamt nach Grafeneck gebracht.
Es gibt die „Verlegungsliste“ von Schussenried nach Grafeneck, darin die Diagnose für Martin Bader: „Encephalitis Epidemia und arbeitsfähig: 0%“. Arbeitsfähig 0% war das Todesurteil.
Die Frau bekam nach dem Krieg keinerlei Witwenrente. Ihr Mann wurde nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.
Über den Lebensweg von Emma Dapp und ihren Weg in die Mordfabrik ist Dank ihres Enkel Hans-Ulrich Dapp vieles bekannt. Ihr Charakter jedoch und auch das Krankheitsbild, das sie in die Psychiatrie gebracht hatte und so zum Opferkreis von Grafeneck werden ließ, ist wenig bekannt. Oder aber: das, was bekannt ist, ist nicht unbedingt glaubwürdig. Denn Emma Dapp wurde von ihrer Schwester Helene Zeller dominiert. Die Schwester, eine Diakonissin, ließ Emma als „haltlos“ abstempeln, als Emma ein uneheliches Kind bekam, und brachte sie in der Psychiatrie unter. Es gehört zur Tragik der Geschichte von Emma Dapp, dass ihr Leid und ihr Tod auch durch die eigene Schwester mit verursacht wurden.
16.03.1889 wurde Emma Dapp in Stuttgart geboren, Alleenstraße 28, der Vater Adolf war Arzt, die Mutter hieß ebenfalls Emma, geborene Binder, sie starb 4 Tage nach der Geburt.
Der Vater war Krebsforscher mit eigenen Instituten in Heidelberg und Weilheim. Er muss sehr streng gewesen sein. Die Familie tendierte wohl dazu, Erbfaktoren im Guten wie im Belastenden viel Bedeutung zuzumessen. Emma, so „beschloss“ die Familie, war belastet.
Emma verlobte sich 1911 mit dem Pfarrer Eugen Dapp, zunächst Pfarrer in Weilheim, dann in Kleingartach bei Heilbronn. Die Ehe soll nicht glücklich gewesen sein. Eugen war Jahrgang 1880, also 9 Jahre älter. Aber die beiden haben 4 Kinder, von denen eines jedoch sehr früh starb. Auch Eugen Dapp starb jung, schon 1918, an der asiatischen Grippe. Emma ist mit 29 Jahren Witwe.
Jetzt geriet sie in die Fänge ihrer Schwester, der einflussreichen Diakonissin Helene Zeller, die ihr die Kinder wegnahm. Es ist unklar, warum Emma Dapp sich das gefallen ließ. Möglich, dass ihr nach dem Tod von Mann und Kind die Kraft fehlte, sich zu wehren. Emma zog 1922 nach Mannheim in die Gärtnerstraße 5, wo sie bei zwei Diakonissinnen untergebracht war.
Im Herbst 1927 wurde Emma schwanger, sie war da 38 Jahre alt. Sie bringt weit weg in der Nähe von Leipzig ihre Tochter Ruth zur Welt, 1928. Auch diese Tochter wird ihr von der Schwester Helene weggenommen. Dann veranlasst die Schwester, dass Emma in die Psychiatrie Weinsberg/Weissenhof eingeliefert wird. Die Diagnose ist unklar bzw. sie entspricht in keiner Weise heutigen Maßstäben, im Zentrum steht eine „Haltlosigkeit“.
Acht Jahre lebt Emma Dapp dann in Weinsberg/Weissenhof. Die Akten zeigen, dass sie immer wieder verlegt wird, mal ist sie in einer Abteilung für Kranke, die auf den Weinbergen arbeiten, also die Klinik verlassen dürfen, dann wieder in einer geschlossenen Abteilung.
Emma Dapp hat wenige Wochen vor ihrem Tod einen Brief an ihre Schwester geschrieben. Die Gerüchte, dass Kranke ermordet werden, hatten sie erreicht, auch muss ihr eine Ärztin gedroht haben. Emma Dapp ahnte, in welcher Gefahr sie schwebte. Ihre Schwester nahm das nicht ernst.
Am 4. Juni 1940 wurde Emma Dapp mit 88 anderen Frauen nach Grafeneck gefahren und ermordet.
Dieter Neumaier war eines der vielen Kinder, die ermordet wurden. Über die Kinder ist meist am wenigsten bekannt – natürlich auch, weil ihre eigene Biografie nur so kurz war. Tatsächlich gab es auch Fälle, in denen Eltern ihre Kinder zur Ermordung gaben, weil sie sie loswerden wollten. Bei Dieter Neumaier war das aber in keiner Weise der Fall.
Dieter wuchs ganz normal auf, mit Eltern und zwei älteren Brüdern. Dann aber, zweijährig, fiel er 1935 bei Schloss Solitude auf der Schillerhöhe bei Stuttgart von einer hohen Treppe. Am Fuße der Treppe stand ein großer Hund. Nach diesem Erlebnis konnte er nur noch sehr undeutlich und stammelnd sprechen. Als dann 1936 seine Mutter an Tuberkulose verstarb, wurde Dieter von der NS-Frauenschaft aus der Familie genommen, um in einem Heim zu leben. Von dort wurde er im Dezember 1940 nach Grafeneck gebracht und ermordet, wahrscheinlich am 12. Dezember. Auch in seinem Fall, wie in vielen anderen, wurde die Familie angelogen, das Kind sei eines natürlichen Todes gestorben. Aber der Verdacht, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugehe, war sofort da.
Dieter Neumaier wurde 7 Jahr alt. Ein Junge mit einem Sprachfehler, den die Nationalsozialisten als „lebensunwert“ abstempelten und ermordeten. Einer seiner Brüder lebt noch, Wolfgang Neumaier. Auch heute noch, 70 Jahre danach, belastet es ihn schwer, was mit seinem Bruder geschehen ist, und immer wieder sieht er das Bild vor Augen, wie sein Bruder Dieter, ein kleiner, hilfloser, wehrloser Junge, mit anderen Menschen in die Gaskammer getrieben wird.