Jugendliche in Nunavut: Die Interview-Partner
Dianne lebt mit ihren Eltern in Iqaluit, sie ist 19 Jahre alt. Ihr Vater ist kein Inuit. Es gibt viele Ehen zwischen Zugezogenen und Inuit, ihre Kinder bezeichnen sich in der Regel dennoch am liebsten als Inuit.
Zu ihrer Schwester hat Dianne ein ganz besonders enges Verhältnis: Weil sich ihre Schwester damals so sehr noch eine kleinere Schwester wünschte, wurde Dianne von den Eltern als zusätzliches Geschwisterkind adoptiert.
Die Schule hat Dianne bereits abgeschlossen. Ihr Traum ist es nun, in Südkanada auf eine Filmschule zu gehen und Regisseurin zu werden. Dianne liebt Musik, in ihrer Freizeit übt sie gerne zusammen mit ihrer besten Freundin Emily den traditionellen Kehlkopfgesang der Inuit, Katadjak.
Philip ist gerade 21 Jahre alt geworden. Er arbeitet von 17 Uhr bis früh am Morgen als Türsteher in einer Bar. Vor einem Jahr musste er die Schule abrechen, weil er das Höchstalter überschritten hatte. Dennoch träumt er von einem gutbezahlten Regierungsjob. Ob er dies ohne Schulabschluss schafft, ist jedoch fraglich.
Seine Leidenschaft gilt dem HipHop. Er war einer der ersten „B-Boys“ Nunavuts. Hierbei ist er ehrgeizig und beharrlich, bringt auch anderen gerne neue Schrittfolgen und Moves bei. Philipp wird in ein paar Monaten Vater und freut sich mit seiner Freundin sehr auf das Kind.
Chris ist 17 und geht auf die Inuksuk High School in Iqaluit. Er und seine Familie kommen ursprünglich aus der kleinen 500-Seelen-Gemeinde Qikiqtarjuaq, ganz im Osten Nunavuts. Der Schulwechsel und die Eingewöhnung in der großen Stadt sind ihm schwer gefallen. Zweimal schon hat er eine Klasse wiederholt, diesmal will er den Abschluss unbedingt schaffen.
Nachmittags arbeitet Chris an einer Tankstelle. Außerdem geht er gerne angeln und genießt die Ruhe dabei. Aber genauso gern hängt er mit Freunden rum oder geht ins Kino.
In den Ferien geht Chris gerne nach Qikiqtarjuaq zurück, um mit seinen Onkeln zu jagen. Seine Inuit-Identität ist ihm wichtig. Ebenso,wie die traditionellen Fähigkeiten zu beherrschen, die man braucht, um in der Tundra zu überleben.
Christa Kunuk, Iqaluit District Education Authority
Christa Kunuk spricht für die lokale Schulbehörde. Diese kümmert sich um öffentliche Bildung und geht dabei auf die spezielle Situation in Nunavut ein. Zwei der wichtigsten Ziele der Behörde sind es, sich um Schüler mit Schwierigkeiten zu kümmern und die Verbreitung der Inuit-Sprache, Inuktitut, zu fördern.
Die Inuit – Identität und Kultur
Trotz der umfangreichen Selbstbestimmung heute leiden die Inuit noch immer unter der kulturellen Entwurzelung vor allem während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig sind ihre Traditionen das, was ihre Identität noch immer ausmacht, worauf sie stolz sind, was ihnen Selbstbewusstsein gibt und womit sie sich gegenüber den restlichen Kanadiern abgrenzen. Mit großen Anstrengungen versuchen sie, viele dieser Traditionen zu bewahren oder sogar wiederzubeleben.
Ursprünglich lebten die Inuit in Gruppen aus mehreren verwandten Familien im Zusammenschluss von 50 bis 100 Personen. Die eigene Familie war und ist auch heute meist noch der zentrale Bezugspunkt im Leben.
Außerdem wird das Leben vor allem durch den arktischen Lebensraum geprägt. Die Arktis zeichnet sich zum Beispiel durch die besonderen Lichtperioden des hohen Nordens aus: lange Tage im Sommer, viel Dunkelheit im Winter. Da gilt es, sich zu beschäftigen: Es gibt eine ausgeprägte Tradition des Geschichtenerzählens, in vielfältigen Überlieferungen werden Mythen, Lieder, Parabeln und Jagdgeschichten weitergegeben.
Dabei gibt es einen engen Bezug zum Meer, nicht allein wegen der Versorgung mit Lebensmitteln. Auch die spirituelle Welt wird vom Meer beeinflusst. Das wichtigste Wesen in der Kosmologie der Inuit ist die Göttin Sedna, die am Meeresboden wohnt.
Eine zentrale Rolle spielt auch heute noch die Jagd. Gerne gehen die Inuit für mehrere Tage jagen und fühlen sich draußen in der Tundra, jenseits der einengenden Siedlungen, am wohlsten.
Allerdings ist es schwierig, eine moderne Arbeitsstelle, zum Beispiel in der Verwaltung, und die traditionelle Jagd – die oft ein paar Tage, gerne auch zwei Wochen dauert – miteinander zu vereinbaren. Anderseits ist ein fester und gutbezahlter Job notwendig, um die Munition für Gewehre und den Treibstoff für Boot oder Schneemobil bezahlen zu können.
Bis vor einigen Jahrzehnten war auch die Technologie der Inuit auf die besondere polare Umwelt abgestimmt: Werkzeuge waren aus Knochen, Elfenbein und Feuerstein, Wärme und Licht kam von Tranlampen, die Kleidung wurde aus Rentier- und Seehundfellen genäht. Bis zum ersten Kontakt mit den Europäern lebten die Inuit als halb-nomadische Jäger, je nach Saison und verfügbarem Wild. Im Frühling und im Sommer zogen die Gruppen verstreut von einem Zeltlager zum nächsten. Im Winter dagegen lebten sie in fellverkleideten Wohnhütten und jagten gemeinsam mit der Gruppe. Als Transportmittel dienten im Sommer Kajaks und Umiaks (große Boote), im Winter Hundeschlitten.
Eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielten damals wie heute die Ältesten der Gemeinschaft, heute „Elders“ genannt. Sie können um Rat gebeten werden und werden wegen ihres großen Erfahrungsschatzes besonders respektiert.
Doch die Ältesten sprechen oft kein Englisch, und die junge Generation hat Schwierigkeiten mit der Sprache Inuktitut, bzw. kann es nur verstehen, nicht aber selbst sprechen. So kommt es zu oft zu Kommunikations- und Generationsproblemen.
Viele junge Frauen und Mädchen haben das „Throat-Singing“ (katajjaq) für sich wiederentdeckt. Dies ist ein besonderer Kehlkopfgesang, der einst den Frauen zum Zeitvertreib diente, während die Männer auf der Jagd waren. In den gesungenen Geschichten werden Geräusche und Abläufe der arktischen Umwelt imitiert.
Zur traditionellen Musik gehört auch der „Drum dance“ (qilaut). Die großen, von den Männern in der Hand gehaltenen Trommeln sind mit Rentier-Haut bespannt und werden mit einem Holzschlegel geschlagen. Beim Tanz schwingt der Spieler die Trommel hin und her und bewegt sich selbst im Rhythmus dazu.
Auch Kunstschnitzereien aus Knochen und Stein finden große Beliebtheit. Einige Künstler verdienen sich heutzutage ihren Lebensunterhalt damit.
Interviews - Identität
Filmskript
Philipp: Nobody ever recognizes me as an Inuk until I start speaking, and then they go, oh, you’re Inuk?
Philipp: Niemand erkennt mich als Inuk, bis ich zu sprechen anfange, und dann sagen sie: Oh, du bist Inuk?
Interviews - Die Muttersprache Inuktitut
Filmskript
Philipp: My Grandfather still tells these stories, and I don‟t understand half of it, but it just amuses me. He just keeps telling them, why don‟t you understand them?
Mein Großvater erzählt immer noch die alten Geschichten, aber ich verstehe nicht mal die Hälfte. Trotzdem macht es mir Spaß. Er erzählt sie immer noch und versteht nicht, warum ich sie nicht verstehe.
Interviews - Throatsinging
Filmskript
Dianne: Having proof of that I’m being Inuk really makes me happy, like throatsinging. Well, you don’t need to be Inuk to throatsing, but Inuit are known for thoatsinging, are really good at it, ...
Dass ich einen Beweis dafür habe, dass ich Inuk bin, macht mich wirklich glücklich. Der Kehlkopfgesang zum Beispiel. Man muss kein Inuk sein, um so zu singen, aber die Inuk sind bekannt für den Kehlkopfgesang.
Interviews - Robbenjagd
Filmskript
Philipp: I guess you could say that living up here I’m more attached to the Inuit, because I love going hunting and everything. But I still haven’t gone yet, ...
Man kann wohl sagen, dass, weil ich hier oben lebe, ich mich den Inuit mehr verbunden fühle, weil ich gerne auf die Jagd gehe und so. Aber ich war immer noch nicht auf der Jagd ...
Jugend in Nunavut
Kinder und Jugendliche stellen in Nunavut die größte Bevölkerungsgruppe, 56% der Einwohner sind unter 25 Jahren.
Doch das Konzept von „Jugend“ gibt es in der Arktis noch nicht so lange. Traditionell bekam ein Kind, sobald es reif genug war um jagen zu können, den Status und die Pflichten eines Erwachsenen.
Die Jugendlichen heutzutage müssen ihre Rolle noch suchen und kämpfen dabei mit überdurchschnittlich vielen sozialen Problemen: einer hohen Arbeitslosigkeit, Alkoholproblemen und Drogenmissbrauch, Obdachlosigkeit und häuslicher Gewalt. Da ist es nicht leicht, selbst stark zu bleiben und einen eigenen Weg zu finden.
Zu den Schwierigkeiten gehört auch, dass es in den einheimischen Schulen nicht viele Inuit-Lehrer gibt. Oft kommen fremde Lehrer aus dem Süden für ein paar Jahre und gehen dann wieder weg. Auch der Unterrichtsstoff und das -material, gerade für die oberen Stufen, spiegelt nicht die Welt der jungen Inuit wieder. So fällt vielen Jugendlichen der regelmäßige Besuch der Schule schwer. Der Abschluss wird zur besonderen Herausforderung, die Schulabbruchquoten sind hoch.
Große Orientierungslosigkeit und negative Erfahrungen lassen viele Jugendliche ohne Halt und Perspektive. Erschreckend viele sehen dann nur noch den Selbstmord als Ausweg - wenn sie glauben, niemanden mehr zu finden, der ihre Sorgen und Nöte versteht.
Die Optimierung der Selbstmordprävention ist ein heiß diskutiertes Thema in Nunavut, eine Verbesserung wird dringend gefordert.
Perspektiven für die Jugendlichen
Unterstützung und Angebote für Jugendliche entwickeln sich erst langsam. So ist es mehr als eine willkommene Abwechslung, wenn zum Beispiel eine Gruppe Hip-Hop Tänzer extra nach Nunavut kommt und einen Workshop anbietet – auf diese Weise haben auch Philip und Chris Hip-Hop und Breakdance gelernt. Die Jugendlichen sind nachhaltig begeistert, in Iqaluit entseht daraus die B-Boy-Gruppe Kaiva. In ihre Choreografien integriert sie Elemente des traditionellen Lebens der Inuit, zum Beispiel die Jagd oder wandernde Eisbären. Das Publikum, darunter auch viele Elders, ist begeistert.
Trotz der schwierigen Lebensumstände ist die Aufbruchsstimmung in Nunavut bemerkenswert. Immer wieder trifft man auf Leute, die neue Ideen haben, andere Menschen mitreißen und aktiv daran arbeiten, das Leben der arktischen Bewohner zu verbessern.
So wurde zum Beispiel eine ganz spezielle Schule für Inuit gegründet, die zwischen dem High School-Abschluss und dem möglichen Studium an einer südkanadischen Universität besucht werden kann: die „Nunavut Sivuniksavut“ in Ottawa.
Jugendliche, die in diesem begehrten Programm aufgenommen sind, werden hier auf das für sie ungewohnte Leben im kanadischen Süden vorbereitet, gleichzeitig gibt es Unterricht in Inuit-Geschichte, aktuellen Inuit-Belangen und Sprachkurse in Inuktitut. Jeder Jahrgang unternimmt eine große Reise zu anderen indigenen Gruppen irgendwo anders auf der Welt.
Die Jugendlichen dieser Schule verstehen sich auch als eine Art Kulturbotschafter, Drum Dance, Throat-Singing, traditionelle Kleidung und Wettkämpfe gehören ebenfalls zum Unterrichtsstoff.
Interviews - Schule und Gesellschaft
Filmskript
Chris: I dropped out of grade ten twice. It brought me back two grades; I just couldn’t quite keep up.
Ich habe die zehnte Klasse zweimal abgebrochen. Ich musste zweimal eine Klasse wiederholen, ich kam einfach nicht richtig mit.
Interviews - Drogen und Alkohol
Filmskript
Dianne: Once I got to High School there was – I don’t know – a lot more stuff happened there. I was introduced to a lot of – I don’t know, maybe a bit like drugs, and especially alcohol, but I handled it well, I think, I’m not as bad as – like – some other people here.
Als ich in die High School kam passierte dort viel mehr. Ich kam mit vielen Dingen in Berührung, Drogen und besonders Alkohol, aber ich ging damit, glaube ich, ganz gut um. Bei mir war es nicht so schlimm wie bei manchen anderen Leuten hier.
Interviews - Selbstmord
Filmskript
Christa Kunuk: Any person I think you’d speak with would say they’ve known somebody, and that’s a lot of people. It is one of the, sort of – elephant in the room, sort of – it’s always there, it‘s always lingering.
Ich denke, alle hier würden sagen, sie kennen jemanden. Und das sind viele Leute. Es so ein allgegenwärtiges Problem, das immer da ist und lauert.
Familien in Nunavut
Hier in der östlichen Arktis, wo die Geburtenrate die höchste in ganz Kanada ist, sind auch Schwangerschaften bei Mädchen nicht ungewöhnlich. Überdurchschnittlich viele werden schon im Teenageralter schwanger, während sie noch auf der High School sind oder bei den Eltern wohnen. Aber eine Schwangerschaft bedeutet nicht das zwangsläufige Ende aller Freiheiten der Jugendlichkeit, sondern wird vielmehr als eine ganz besondere Erfahrung für das Mädchen gesehen, oftmals gibt es durch eine Schwangerschaft sogar besondere Anerkennung in der eigenen Familie oder im Freundeskreis.
Natürlich ist auch in Nunavut das Thema der frühen Schwangerschaft nicht immer konfliktfrei. Wer aber seine Familie hinter sich weiß, erfährt in der Regel große Unterstützung. Traditionell obliegt die Erziehung der Kinder nicht allein den Eltern, sondern ist vielmehr eine Verpflichtung der ganzen Familie mit Tanten, Onkeln, Halbgeschwistern, Cousins, Cousinen und selbstverständlich den geachteten Großeltern.
Der umkomplizierte Umgang mit dem Thema liegt zum Teil auch an der besonderen Adoptionskultur der Inuit. Adoptionen innerhalb der Familie sind weit verbreitet, in Kanada genießen die Inuit aus diesen kulturellen Gründen sogar ein vereinfachtes Adoptionsrecht. Auch in den älteren Generationen unterscheiden die Menschen in Gesprächen ganz offen ihre „normalen“ Eltern von ihren biologischen Eltern. Kontakte zur biologischen Familie sind auch nach der Adoption üblich.
Auch Dianne hat vor kurzem ein eigenes Kind bekommen. Sie fühlte sich aber noch nicht reif dafür, hat erst noch viele andere Pläne. Deswegen hat sie ihren neugeborenen Sohn an ihre Schwester abgegeben. Durch die unkomplizierte Möglichkeit der Adoption konnte sie selbst aussuchen, wem sie ihren Sohn anvertraut, und sie freut sich, ihn bei ihrer Schwester aufwachsen sehen zu können. Ihr nächstes Kind, sagt sie, will sie ganz sicher selbst behalten.
Interviews - Teenager-Schwangerschaften
Filmskript
Christa Kunuk: We do have a lot of young girls, like 15, 16 who are having babies. And as long as they have the family support – I know this is going to sound bizarre - I am not upset with it as long as they have the family support…
Wir haben viele Mädchen hier, die mit 15, 16 Babies bekommen. So lange die Familie sie unterstützt – das klingt vielleicht seltsam – mache ich mir keine Sorgen – wenn sie die Unterstützung ihrer Familie haben.