Unmittelbar nach dem Krieg liegt die deutsche Wirtschaft am Boden. Die Wirtschaftshilfen der Amerikaner aber, die Währungsreform und ein allgemeiner Aufbauwille in der deutschen Nachkriegsgesellschaft verhelfen Deutschland in den 50er und 60er Jahren zu einem einzigartigen Wirtschaftsboom, dem so genannten Wirtschaftswunder. Das Bruttosozialprodukt steigt, die Arbeitslosigkeit geht zurück, der materielle Wohlstand wächst. Der Bedarf an Arbeitskräften ist groß. In den ersten Jahren kann er durch Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten gedeckt werden, die jetzt unter sowjetischer, polnischer oder tschechischer Verwaltung stehen. Auch aus der der späteren Deutschen Demokratischen Republik (DDR), kommen Tausende Flüchtlinge, die für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.
Dennoch klagen die Betriebe bald über einen Mangel an Arbeitskräften. In Bayern fehlen vor allem Landarbeiter, Nordrhein-Westfalen klagt über zu wenig Bergleute, Baden-Württemberg braucht Metaller… Die Unternehmerverbände üben immer mehr Druck auf die Regierung aus, das Problem zu lösen. Alle sind sich einig: Die Bundesrepublik braucht mehr Arbeiter. Und die gibt es in den europäischen Nachbarländern. Immer lauter wird über die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte nachgedacht.
Die italienische Regierung wendet sich im September 1954 an den deutschen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard. Ihr Vorschlag: Um die italienische Wirtschaft und den übervölkerten Süden des Landes zu entlasten und gleichzeitig den Mangel an Arbeitskräften in Deutschland zu beheben, sollen 100.000 bis 200.000 Italiener zur Arbeit nach Deutschland geschickt werden. So wird am 20. Dezember 1955 das deutsch-italienische Anwerbeabkommen über die Vermittlung von 100.000 italienischen Arbeitern nach Deutschland unterzeichnet.
In den 1950er und 1960er Jahren kommen die ersten "Gastarbeiter" mit Sonderzügen nach Deutschland. Am Zielbahnhof werden sie registriert, mit einer warmen Mahlzeit versorgt und auf die Züge verteilt, die sie zu ihren Arbeitgebern im Bundesgebiet fahren. Dort werden sie meist in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Größere Betriebe organisieren Dolmetscher, die den Ankömmlingen den Anfang erleichtern sollen. Sie erklären, wie man in Deutschland einkauft, Straßenbahn und Busse benutzt und helfen beim Einlernen am Arbeitsplatz. Viele müssen aber von Anfang an auch allein zurechtkommen.
Die meisten „Gastarbeiter“ erhalten zunächst nur für ein Jahr das Aufenthaltsrecht. Sie arbeiten vor allem in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, der Eisen- und Metallindustrie und im Bergbau. Dort werden sie als angelernte Arbeiter vor allem in Bereichen eingesetzt, in denen schwere, schmutzige und Schichtarbeit geleistet werden muss und nach Akkordlohn bezahlt wird - oft am Fließband in großen Industriebetrieben. Sie machen überdurchschnittlich viele Überstunden, wohnen meist in billigen Gemeinschaftsunterkünften und geben auch sonst nicht viel Geld aus. In der kurzen Zeit ihres Aufenthalts wollen sie so viel wie möglich sparen, damit sie sich nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat eine neue Zukunft aufbauen können. Nach Ablauf eines Jahres, wenn die Saisonverträge abgelaufen sind, packen die meisten ihre Koffer und gehen wieder zurück in ihr Heimatland.
Die Beschäftigung von „Gastarbeitern“ gilt als ein Erfolgsmodell. Die Arbeitgeber schätzen sie als "mobile Arbeitsreserve", die Gesellschaft geht davon aus, dass die ausländischen Arbeitnehmer nur vorübergehend hier leben und nach Ablauf ihres befristeten Vertrags wieder in ihre Heimatländer zurückkehren.
Zu Beginn der 1960er Jahre steigt der Bedarf an Arbeitskräften aus dem Ausland weiter an. Die Zahl der erwerbstätigen Deutschen sinkt: Durch den Bau der Mauer 1961 kommen keine Flüchtlinge aus dem Osten mehr auf den Arbeitsmarkt, die deutschen Arbeitnehmer gehen früher in Rente, die durchschnittliche Wochenarbeitszeit sinkt.
Nach dem Muster des deutsch-italienischen Anwerbeabkommens folgen ähnliche Vereinbarungen mit Spanien und Griechenland (1960), mit der Türkei (1961), mit Portugal (1964) und dem damaligen Jugoslawien (1968).
Als im Herbst 1964 der millionste „Gastarbeiter“ ein Portugiese, nach Deutschland kommt, wird er freudig begrüßt und mit einem Moped beschenkt. Noch immer gehen alle davon aus, dass die so genannten Gastarbeiter nur für eine bestimmte Zeit nach Deutschland kommen und bald wieder in ihre Heimatländer zurückgehen würden.
1973 leben rund vier Millionen Ausländer in der Bundesrepublik. Jetzt denkt die Bundesregierung - eine Koalition aus SPD und FDP - verstärkt darüber nach, wie sie die Zahl der nach Deutschland kommenden Ausländer begrenzen kann. Im November 1973 beschließt sie einen Anwerbestopp. Ausländer aus Nicht-EG Staaten, wie zum Beispiel der Türkei, erhalten damit nur noch in wenigen Ausnahmefällen und unter strengen Beschränkungen eine Arbeitserlaubnis in Deutschland. Man verspricht sich dadurch nicht nur ein Ende des Zuzugs, sondern auch einen Rückgang der Ausländerzahlen, weil man damit hofft, dass, wie bisher, ungefähr 200.000 bis 300.000 ausländische Arbeitnehmer im Jahr freiwillig in ihre Heimatländer zurückkehren werden.
In zehn Jahren, so die Rechnung, würde sich dadurch die Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer von vier auf zwei Millionen verringert haben. Gerechtfertigt wird der Anwerbestopp als vorbeugende Maßnahme gegen eine mögliche Rezession durch die Ölkrise. In diesem Klima der Angst gibt es kaum Widerstand gegen diese einschneidende Änderung in der deutschen Ausländerpolitik. Der Anwerbestopp wird von der Öffentlichkeit weitgehend akzeptiert.
Der Anwerbestopp, den die Bundesregierung 1973 einführt, bringt nicht den gewünschten Erfolg. Die Rückreisewelle bleibt aus, die Zahl der Ausländer in Deutschland steigt sogar. Viele holen jetzt erst recht Frauen und Kinder nach. Sie wollen in Deutschland bleiben. Aus den so genannten Gastarbeitern werden allmählich "Einwanderer". Aber daraus ergeben sich auch Probleme. In den Sanierungsgebieten großer Städte, wo die Mieten für Wohnungen besonders niedrig sind, entstehen regelrechte Ausländerviertel.
Es gibt Befürchtungen, dass es dadurch zu "Ausländerghettos" und zu sozialen Spannungen kommen könne. Außerdem werden ausländische Arbeitnehmer überdurchschnittlich oft arbeitslos. Als Mitte der 70er Jahre viele Betriebe, besonders im Baugewerbe und in der Stahl- oder Textilindustrie, schließen müssen, sind viele der Ausländer von den Kündigungen betroffen. Dadurch steigen die öffentlichen Ausgaben für Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
Die Ausländerpolitik ist zerrissen zwischen zwei Zielen: Einerseits soll der Zuzug von Ausländern begrenzt werden, andererseits müssen endlich Maßnahmen zur Eingliederung der in Deutschland lebenden Ausländer getroffen werden.
Besonders schwer haben es ausländische Jugendliche, vor allem, wenn ihre Eltern sie erst später in die Bundesrepublik nachholen. Viele erleben den Umzug als Kulturschock. Sie sind mit den Werten ihrer Heimatländer aufgewachsen, sprechen kein Deutsch und kommen deshalb mit den Anforderungen in der Schule und in der Ausbildung nicht zurecht.
Weil die Ausländerpolitik immer noch von der Maxime geprägt ist, dass Ausländer möglichst wieder in ihr Heimatland zurückkehren sollen, können sie sich auch schlecht integrieren. All diese Probleme erzeugen bei vielen Deutschen Ängste und Ablehnung von Ausländern und führen immer wieder zu Versuchen, deren Zahl zu begrenzen. Allerdings haben entsprechende Einschränkungen kaum mehr Wirkung, da sie für Ausländer, die aus Staaten der Europäischen Union kommen, ohnehin nicht gelten.
Angehörige eines EU-Lands können praktisch ohne Beschränkungen in einem anderen EU-Land arbeiten. Es wird immer deutlicher, dass Deutschland ein neues Gesetz braucht, das Einwanderung als Tatsache anerkennt, Integration fördert, und den Rechtsstatus von Ausländern, die hier leben, verbessert.
Die Diskussion, wie eine multikulturelle Gesellschaft ihr Miteinander gestalten kann, dauert auch heute noch an, und die Suche nach Identität verläuft nicht ohne Probleme. Es ist eine Tatsache: Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden. Mittlerweile ist bereits die dritte Generation herangewachsen: die Kinder und Enkel der Einwanderer. Sie leben meist bewusst mit zwei Kulturen, in einer Bundesrepublik, die offener und vielfältiger geworden ist, und gestalten dieses Land mit.