Das Holz vor dem Haus strahlt mit 2,988 Mikrosievert pro Stunde
SWR - Screenshot aus der Sendung
In Deutschland wird die sogenannte Gamma-Ortsdosisleistung in circa 1800 bundesweit verteilten Messstationen ermittelt und - täglich aktualisiert - auf den Internet-Seiten des „Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS)“ veröffentlicht. (Online-Suche: Bundesamt für Strahlenschutz - Ortsdosisleistung). Für jede Messstation können über diese Seite zudem detaillierte Daten entnommen werden.
Die Ortsdosisleistung wird in Sv (Sievert) berechnet. Diese Einheit dient zur Bestimmung der biologisch relevanten Belastung durch radioaktive Strahlung, die von einer Strahlenquelle zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeht. 1 µSv/h (Mikrosievert pro Stunde) = 1000 nSv/h (Nanosievert pro Stunde).
Die mittlere Ortsdosisleistung beträgt in Baden-Württemberg circa 60 nSv/h (Nanosievert pro Stunde) = 0,062 µSv/h (Mikrosievert pro Stunde)
Zur Messung von Radioaktivität werden unterschiedliche Einheiten verwendet (Sievert, Bequerel, Gray / pro Stunde, pro Jahr). Mit Hilfe von Online-Umrechnern kann man die Werte und Einheiten vergleichen (Online-Suche: Radioaktivität – Einheiten - umrechnen).
In Japan gab es 2011, abgesehen von Fallouts nach den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki, wenig Erfahrung mit radioaktiven Stoffen in der Umwelt. Natürlich kannten die Japaner die Unfälle von Tschernobyl (1986) und Three Mile Island (1979) aus den Massenmedien. Aber sie hätten nicht gedacht, dass es sie selbst betreffen könnte. „So etwas passiert hier nicht“ war die gängige Erklärung der Atomlobby. Dabei hatten gerade die Erfahrungen dieser beiden Atomunfälle das Wissen um die Wirkung von Radioaktivität auf den menschlichen Körper erweitert.
Die biologischen Folgen von radioaktivem Cäsium-137 auf den menschlichen Körper galten als gut erforscht. Insbesondere die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl hatte 1986 große Mengen von Caesium-137 in die Atmosphäre geschleudert. Zudem hatte die Ausbreitung von radioaktivem Jod-131 1986 verheerende Folgen für die Menschen in der Umgebung von Tschernobyl verursacht.
Auch Japan betreibt im Rahmen der WMO (UN Wetterdienst) ein flächendeckendes System der Luftüberwachung auf Radioaktivität. Bereits am Tag der Katastrophe wurden im Raum Tokio erhöhte Werte ermittelt, sowohl durch das Warnsystem der WMO als auch durch Schiffe der US Navy, die in der Flottenbasis Yokosuka über spezielles Equipment zur Analyse von Strahlenbelastungen verfügen. Sofort begannen auch die japanischen Streitkräfte mit Hubschrauberflügen über dem Tsunamigebiet und im Bereich des havarierten Kernkraftwerkes, um ein erstes Bild über die Art und Menge der ausgetretenen Strahlung zu erhalten.
Erst nach Monaten konnte ermittelt werden, dass zwar große Mengen radioaktiven Gases in Richtung offenes Meer gezogen waren, dass aber die dichtbesiedelte Kantoebene (um Tokio) gerade in den ersten Tagen nach dem Reaktorunfall ebenfalls radioaktiven Niederschlägen ausgesetzt war. Darum ist es nicht verwunderlich, dass sich immer wieder sogenannte Hotspots, also kleine Stellen mit extrem hoher Strahlung, auch im Raum Tokio finden.
Die am meisten belasteten Gebiete liegen jedoch nordwestlich und westlich von Fukushima Daiichi. Dort wurden auch die Evakuierungszonen eingerichtet. Eine Rückkehr der Bewohner in diese Gebiete ist praktisch ausgeschlossen.
Es wird aber noch Jahre dauern, bis gesichert geklärt ist, welche radioaktiven Stoffe in welcher Menge ausgetreten sind oder weiterhin in die Umgebung von Fukushima Daiichi gelangen werden. Insbesondere die Ermittlung der Menge von Cäsium-137 spielt eine herausragende Rolle bei der Beurteilung der gesundheitlichen Folgen für die 1,5 Millionen Menschen, die im größeren Umfeld der havarierten Reaktoren leben müssen.
Auch die Stadt Koriyama liegt in diesem belasteten Gebiet. In unserem Film „Ein Jahr nach Fukushima“ wurden im Außenbereich der Meiken Junior Highschool am 28. Januar 2012 0,588 µSv/h gemessen. Das sind 588 nSv/h, das heißt zum Vergleich: der circa 10fache Durchschnittswert von Baden-Württemberg.
Die japanischen Atomindustrie, und damit auch der Betreiber von Fukushima Daiichi, rechneten nicht mit der Möglichkeit der Kernschmelze. Diese Haltung war nicht nur „nach außen“, als Ausdruck des Atommythos, wirksam. Auch nach innen, so bestätigen inzwischen japanische Insider: in den Zirkeln, die sich mit Sicherheitsfragen beschäftigten, ging man von einem großen Atomunfall nicht aus. Und das, obwohl es seit den 1970er Jahren weltweit bekannt war, dass der Kernkraftwerks-Typ Fukushima Konstruktionsmängel hat, die eine Kernschmelze nicht beherrschbar machen würden.
Darum ist es nicht verwunderlich, wenn Tepco Informationen über Strahlung in der Umgebung, oder gar Einzelheiten über Explosionen und verletzte Arbeiter zurückhielt. Auch mehrere Tage nach dem Erdbeben/Tsunami wusste nicht einmal der damalige Ministerpräsident Kan Bescheid. So verlief auch die Evakuierung der Anwohner schleppend.
Zuerst wurde am Tag des Erdbebens, am 11. März 2012, die Evakuierung von Anwohnern im Umkreis bis zu 3 Kilometern vom Kraftwerk bestimmt. In dieser 3 Km Zone lag die Stadt Futaba mit fast 7000 Einwohnern. 90% der Häuser waren durch das Beben oder den Tsunami zerstört worden. Futaba liegt nordwestlich des Kraftwerkes, also in der Haupt-Windrichtung der ersten Strahlenauswürfe.
Am 12. März nachmittags erfolgte die Evakuierung der Menschen aus der 3 Km und 10 Km Zone. Währenddessen kam es in den Reaktoren 1-3 zur Kernschmelze, wurde radioaktiver Dampf abgelassen, um den Druck in den Reaktoren zu verringern. Viele der Evakuierten dürften dabei eine hohe Dosis Strahlung abbekommen haben. Noch am Abend des 12. März wurde dann eine strikte 20 Km Zone eingerichtet, was eine Massenflucht aus der Umgebung des Kraftwerkes auslöste. 88.000 Menschen wurden, nach der ersten Explosion, umgesiedelt, viele davon in andere Städte der Präfektur Fukushima, viele auch nach Koriyama.
Ab dem 25. März wurde die 30 Km Evakuierungszone eingerichtet. Zunächst war das Verlassen der Zone freiwillig, ab April 2011 wurde es Pflicht. Nur wenige Anwohner weigern sich und leben weiterhin in der 30Km Zone. Insgesamt mussten 300 000 Menschen in der Folge der Reaktorkatastrophe ihre Heimat verlassen.
Manche Kinder aus Fukushima dürfen verreisen und an einem unbelastetem Ort spielen
SWR - Screenshot aus der Sendung
Die Gesundheitsgefahren durch sogenannte „low-level radiation“ (LLR) im Umfeld von Anlagen der Atomindustrie füllen weltweit Bibliotheken. Der Streit um diese Strahlung ist so alt wie die Nutzung der Kernspaltung für militärische und zivile Zwecke. Während ein grundsätzlicher Zusammenhang von Strahlendosis und Krebsrisiko als gesichert gilt, ist dieser für niedrige Dosis-Bereiche weiterhin umstritten. Unklar ist auch, bei welchem Dosis-Bereich LLR überhaupt beginnt, wann die Schwelle für Gesundheitsgefahren überschritten ist. Insgesamt kann man nicht von ungefährlichen LLRs ausgehen, wenngleich in Betracht gezogen werden muss, dass es auch natürliche Umgebungsradioaktivität gibt, die immer auch einen biologischen Effekt verzeichnet.
Ende 2011 wurde darum eine großangelegte Kinder LLR-Studie im Umfeld von Fukushima gestartet. 360.000 Kinder unter 18 Jahre sollen regelmäßig, und über Jahrzehnte, untersucht werden, ob sie gesundheitliche Folgen der Strahlenbelastung zeigen. Vielen Initiativen aus dem Einwirkungsgebiet der Strahlung, also auch aus Koriyama, geht das nicht weit genug. Sie fordern eine vollständige oder zeitweilige Evakuierung von Kindern im Kindergarten- oder Grundschulalter in unbelastete Gebiete Japans. Insgesamt beklagen sie vor allem eine mangelnde Zuwendung von Gesundheitspolitik und Ärzteverbänden zu diesem Thema.
Hiroko Aihara, Journalistin Fukushima
SWR - Screenshot aus der Sendung
Hiroko Aihara ist Journalistin und hatte zwanzig Jahre lang für eine Regionalzeitung in Fukushima-Stadt gearbeitet. Seit dem 11. März 2011 ist sie in der Berichterstattung über die Gesundheitsgefahren für Kinder im Strahlungsgebiet engagiert. Heute arbeitet sie als Videoreporterin für die Internet-Plattform videonews.com.
„Wir sind jetzt wirklich in einer schwierigen Lage. Man kann die Krankheiten, die durch Strahlung ausgelöst werden, nicht so strikt von anderen Ursachen trennen. Man kann nicht mit Sicherheit sagen, ob eine Krankheit durch die Strahlung ausgelöst wurde oder nicht. Das ist sehr schwierig.
Das wichtigste ist jetzt, dass, wenn Kinder in Zukunft krank werden, sie unverzüglich behandelt werden. Außerdem müsste man jetzt die Gesundheitschecks der Kinder noch intensivieren. Die Ärzte, die Experten müssten auch aktiver werden und Beweise vorlegen. Zum Beispiel darüber, dass die Zahl der Kinder in (der Präfektur) Fukushima, die dauernd Durchfälle haben, stark gestiegen ist. Solche Phänomene müssten sie sorgfältig untersuchen. Und dann müssten sie den Einfluss der Strahlung auch wirklich zugeben. Und nichts verstecken. Das ist wichtig. Der Wunsch, die gegenwärtige Situation voll zu erfassen, ist sehr gering. Man kann beinahe sagen, dieser Wunsch existiert nicht. Es ist sehr wichtig, dass sich die Medizin nun erst einmal für die gegenwärtige Lage interessiert.“
Quelle SWR, 27.01.2012
Block 1: Kernschmelze ist durch das Reaktordruckgefäß in den Betonboden gedrungen, hohe Strahlung, Gebäude zerstört
Block 2: Kernschmelze, Explosion in wassergefüllter Druckkammer, Gebäude relativ intakt, sehr hohe Strahlung.
Block 3: Kernschmelze, Explosion, Gebäude zerstört, dabei wohl Block 4 Gebäude ebenfalls beschädigt.
Block 4: (Reaktor war zur Wartung abgeschaltet) hochradioaktive Brennelemente im Abklingbecken, Explosion, Gebäude zerstört, Abklingbecken instabil, hohe Strahlung.
Viele Experten sehen die mögliche Zerstörung des Blockes 4 in einem weiteren Großbeben als Gefahr für ganz Japan an. Im Abklingbecken von Block 4 lagern 135 Tonnen radioaktives Material. Nur die ständige Überdeckung mit Wasser schützt die Umgebung vor hoher Strahlung.
Die Lage im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi (00:31 min)
„Der Brennstoff in dem Kraftwerk ist geschmolzen. Wir wissen nicht, wo er ist. Jetzt werden Reste der Reaktoren gekühlt. Wenn die Kühlung unterbrochen wird, führt das wieder zu Problemen. Das gilt auch für die abgebrannten Brennelemente. Außerdem sind Nachbeben eine Gefahr. So gesehen kann man nicht sagen, dass die Lage dort wirklich sicher und stabil ist.“
Masashi Goto war einer der ersten Experten, der kurz nach der Katastrophe den Zuschauern im japanischen Fernsehen die Augen öffnete. Goto hatte selbst über zehn Jahre für den Hersteller Toshiba Kernkraftwerke gebaut, bevor er, lange vor 2011, auf die Seite der Atomkritiker wechselte und in einem Buch vor der Gefährlichkeit von Kernanlagen im Erdbebenland Japan warnte.
Quelle: SWR2 Wissen: Atomkatasrophe von Fukushima - Japans Energiewende, 12.03.2012
Bis 2011 glaubten viele in Japan an die Gefahrlosigkeit des Atoms. Dieser Mythos wird heute als eine Ursache für das Ausmaß der Atomkatastrophe des 11. März 2011 angesehen: daraus folgte die Sorglosigkeit, Hemdsärmlichkeit im Umgang mit den Gefahren radioaktiver Brennstoffe, aber auch Denkverbote und sträfliche Ignoranz gegenüber den Diskussionen der internationalen nuklearen Sicherheitsforschung, die nach dem Unfall im amerikanischen Kernkraftwerk „Three Mile Island“ im Jahre 1979 eingesetzt hatte.
Der Umgang mit der Katastrophe von Fukushima wird letztendlich über das Schicksal der Kernenergie-Nutzung zur Stromerzeugung weltweit entscheiden. Doch zunächst hängt die Sicherheit der Millionenmetropole Tokio von den tausenden Arbeitern ab, die den Rückbau der Atomruine betreiben.
Vor dem 11. März 2011 war das Kernkraftwerk Fukushima mit über 8000 MW Leistung die weltweit größte Atomstromanlage. Vier der acht Reaktoren sind seither die größte Reaktorruine der Welt. Deren Beseitigung wird noch lange finanziell und technologisch eine Herausforderung für Betreiber und die japanische Regierung sein. Die japanische Regierung rechnet mit 40 Jahren, Tepco, der Betreiber der Anlagen, hat noch einen viel längeren Zeithorizont, der erforderlich ist, um tatsächlich all die geschmolzenen oder explodierten Metallstücke nach und nach zu bergen, abzubauen und sicher zu verpacken.
Die vier im März 2011 havarierten Reaktoren von Fukushima Daiichi wurden zwischen 1967 und 1979 fertiggestellt. Japanische Regierungen dieser Zeit sahen Kernkraft als willkommene, inländische Energieressource an, als ein verlockendes Gut in einem Land praktisch ohne Kohle, Gas und Ölvorkommen.
Wie geht es in Japan mit der Atomenergie weiter? (00:58 min)
Eine Einschätzung von Ken Nakajima am Forschungsreaktor der Universität Kyoto:
„Das ist jetzt natürlich nur meine persönliche Meinung. Es geht in die Richtung, die Atomkraft so wenig wie möglich einzusetzen. Ich denke, grundsätzlich gibt es dazu keine Alternative. Aber wenn man an die zukünftige Energieversorgung denkt, ist es in einem Inselland wie Japan - Deutschland kann auf das europäische Verbundnetz zurückgreifen - schwierig, sich nur auf erneuerbare Energien wie Solar-, Wind- und Wellenkraft zu verlassen. Aber der wichtigste Punkt ist, dass die Bevölkerung in Japan die Atomenergie weiter als sicher akzeptiert. Jetzt muss man aber erst einmal den Unfall in Fukushima unter Kontrolle bringen und Lehren daraus ziehen und diese Erkenntnisse in zukünftige Sicherheitsmaßnahmen für die Atomkraft integrieren.“ Quelle: SWR2 Wissen: Atomkatastrophe von Fukushima - Japans Energiewende, 12.03.2012
Doch Japan ist nicht auf eine große Wende in der Energiepolitik vorbereitet. Nur 1% der Energie kommen 2012 aus Wind – oder Solarkraftwerken. Fast 49.000 Megawatt elektrische Leistung lieferten bis März 2011 die über 50 japanischen Kernkraftwerke. Die waren schnell nach der Katastrophe von Fukushima per Regierungsmoratorium größtenteils vom Netz genommen worden.
Eine Energiewende würde langfristig die völlige Abkehr von der zentralen Stromversorgung aus großen Kraftwerken (Kohle, Gas oder Atom) hin zu dezentralen Einheiten auf der Basis von erneuerbaren Energien bedeuten. Das ist ohne moderne Netze und den Willen der Konsumenten zum Atomausstieg nicht zu bewältigen. Zwar sind laut Umfragen Anfang der 2010er Jahre circa 70% der Japaner für eine Abkehr vom Atom, die Jahre nach 2011 werden jedoch praktisch erweisen müssen, ob eine Energiewende auch langfristig organisierbar ist und bei Politik und Verwaltung nachhaltige Unterstützung finden würde.
Hörfunksendung
Bis zur Atomkatastrophe von Fukushima gab es in Japan kaum Zweifel an der Sicherheit der eigenen Kernkraftwerke. Jetzt leben die Menschen mit der atomaren Bedrohung. Doch bedeutet der 11. März 2011 tatsächlich den Beginn einer Energiewende in Japan? Dieser Frage gehen Michael Hänel und Susanne Steffen vor Ort nach.
Atomkatastrophe von Fukushima – Japans Energiewende: SWR2 Wissen, 12.03.2012 (27:29 min)