4.5 Der Angriff auf den eigenen Körper
"Dem unerwünschten Eindringling bereitet das Immunsystem ein schreckenerregendes Willkommen: Eine ganze Armee hochspezialisierter Angreifer, strategisch versiert und bestückt mit giftigen Waffen. Jede Attacke des Immunsystems ist für den, der in die Schusslinie gerät, ein Kampf auf Leben und Tod."
Paul Ehrlich
Was passieren sollte, wenn sich dieser Apparat einmal gegen die Zellen des eigenen Körpers wenden würde, hat Paul Ehrlich mit den Worten "horror autotoxicus" auszudrücken versucht. Was zu Ehrlichs Zeiten noch nicht klar war, weiß man heute mit Bestimmtheit, nämlich dass tatsächlich eine ganze Reihe von Krankheiten durch unterschiedliche Fehlleistungen des Immunsystems ausgelöst werden. Man spricht von Autoimmunerkrankungen (autoimmun = gegen sich selbst immun).
Es gibt Autoimmunerkrankungen, die sich auf den gesamten Körper ausbreiten können, aber auch solche, die auf ein Organ beschränkt sind und bleiben. Alle Organe des Körpers können anfällig für Autoimmunerkrankungen sein.
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- Scharfgemachte T-Killer-Zellen können, wenn sie fehl-programmiert wurden, auch körpereigenes Gewebe zerstören.
Fehler im Erkennungsmechanismus
Je komplizierter ein Apparat ist, umso anfälliger wird er auch für Fehler. Das Immunsystem, das ansonsten blind wäre, orientiert sich an dem komplexen biochemischen Erkennungsmechanismus, der über den MHC läuft, um zwischen Fremd und Eigen, Freund und Feind zu unterscheiden. Indem bestimmte Oberflächenmerkmale der "enttarnten" Eindringlinge erkannt und in T- und B-Zellen abgespeichert werden, schießt sich das Immunsystem auf seine "Feinde" ein. T-Zellen werden durch den Kontakt mit den Erkennungszeichen scharf gemacht und können B-Zellen anregen, spezifische Antikörper gegen den Auslöser zu bilden. Durch Fehler können in diesem System auch körpereigene oder -ähnliche Merkmale abgespeichert werden. Dann werden die eigenen Zellen zur Zielscheibe des Immunsystems.
Falsch programmierte T-Zellen - Typ-1-Diabetes
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- Trickfilm "Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose"
Im Thymus werden normalerweise alle T-Zellen, die auf körpereigene MHC-Moleküle reagieren, ausgesondert und vernichtet. Bei Typ-1-Diabetes-Kranken gelingt das nicht. Bei ihnen verlassen T-Zellen den Thymus, die auf die köpereigenen Inselzellen reagieren. Inselzellen nisten in der Bauchspeicheldrüse und haben die wichtige Aufgabe das Hormon Insulin zu produzieren. Insulin regelt die Umwandlung von Zucker in verwertbare und speicherbare Energiereserven. Die fehlgeleiteten T-Zellen sind darauf programmiert, die Inselzellen, und damit die Insulinproduktion des eigenen Körpers zu zerstören. Dem betroffenen Menschen fehlt es fortan an diesem lebensnotwendigen Hormon.
Man nimmt an, dass die Veranlagung zu dieser Krankheit vererbt wird. Das verantwortliche Gen wurde auf Chromosom 11 gefunden. Aber erst eine Virusinfektion (Mumps- und Coxsackie-Virus stehen im Verdacht) regt die massenhafte Produktion der fehlgesteuerten T-Zellen an. Wahrscheinlich bestehen Ähnlichkeiten zwischen den Antigenen dieser Viren und den entsprechenden Strukturen auf den Inselzellen. Die fraglichen T-Zellen erhalten erst durch das Virus die Signale, die einen Abwehrkampf starten, in den dann die "unschuldigen" Inselzellen mit hineingezogen werden.
Typ-1-Diabetes tritt meist bei Jugendlichen unter 20 Jahren auf. Etwa 10% aller Diabetiker leiden unter dieser Form der Erkrankung. Der Patient muss eine strenge Diät halten und sich täglich die benötigte Insulinmenge spritzen. Heutzutage gibt es auch die Möglichkeit, gesunde Inselzellen zu implantieren oder die Bauchspeicheldrüse komplett auszutauschen. Diese Operation ist aber nur erfolgversprechend, wenn zuvor den selbstzerstörerischen T-Zellen das Handwerk gelegt wurde.
T-Zellen-Verwechslung - multiple Sklerose
Auch bei der multiplen Sklerose sind die krankheitsauslösenden T-Zellen eigentlich gegen ein Virus gerichtet, z. B. ein Grippe- oder ein Herpesvirus. Dessen MHC-Markierung ähnelt aber beim Betroffenen den Eiweißbausteinen, die auf der äußeren Umhüllung seiner Nervenenden in Gehirn und Rückenmark zu finden sind, den sogenannten Myelinscheiden. Einmal durch das tatsächliche Virus aktiviert, attackieren die "scharfgemachten" T-Zellen auch diese Myelinscheiden. Die wichtigen Nervenhüllen werden von den eigenen Immunzellen zunächst in der Nähe des wirklichen Infektionsherds und schließlich im ganzen Körper bekämpft.
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- Multiple-Sklerose-Kranker
Der Erkrankte bekommt anfangs massive Wahrnehmungs- und Gleichgewichtsstörungen, dann erlahmen die Funktionen von Magen- und Darmtrakt. Bisher ist noch keine Methode gefunden worden, MS endgültig zu heilen. Zur Behandlung stehen drei Substanzen zur Verfügung. Interferon-ß (IFN-b1a) ist ein körpereigener Botenstoffe, der bei viralen Infekten gebildet wird und u. a. die Virusvermehrung hemmt. Ein Problem bei der Behandlung mit Interferon-ß ist, dass manche Menschen Antikörper entwickeln, die die Interferon-Wirkung aufheben.
Der Stoff Copolymer-1 ist ein synthetisch hergestelltes Gemisch verschiedener Eiweißbausteine (Peptide), die auch in der Hüllschicht der Nervenfasern, dem Myelin, vorkommen. Copolymer-1 zieht die Aufmerksamkeit der Immunabwehr auf sich und lenkt so von den Myelinscheiden ab.
Einen neuen Weg beschreitet die Behandlung mit Antikörpern, die dem Kranken gespritzt werden. Die Antikörper werden von gesunden Spendern gewonnen. Plasmaspenden von mehr als 10.000 Einzelspendern werden gemischt, um daraus einen vielfältigen Cocktail zu gewinnen.
Rheumatoide Arthritis (Rheuma)
Die rheumatoide Arthritis ist eine von vielen Spielarten der Volkskrankheit Rheuma. "Rheuma" ist ein Oberbegriff für Entzündungen der Gelenke, des Stütz- und des Bewegungsapparates. Mehr als hundert verschiedene Krankheitsbilder sind darunter zusammen gefasst. Speziell die rheumatoide Arthritis hat ihre Ursachen in einer Autoimmunreaktion, deren Verlauf allerdings nicht geklärt ist.
Angriffspunkte des Immunsystems sind die Zellen der Gelenkhaut (Synovialis). Antigenpräsentierende Fresszellen und T-Zellen wandern dort in großen Mengen ein. Sie scheinen auf eine Oberflächenstruktur der Gelenkhautzellen zu reagieren. Eine heftige Entzündungsreaktion entsteht, die sich immer weiter ausdehnt. Auch B-Zellen und Antikörper sind an der Reaktion beteiligt. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die Botenstoffe TNF-α und Interleukin-1 und -6.
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- Durch Rheuma geschädigte Hand
Durch die Zytokine, die die Immunzellen ausschütten, wird die Gelenkhaut stark geschädigt. Ergüsse bilden sich, die in das Gelenk hineinwuchern, ganz ähnlich wie ein Tumor. Durch die Wucherung werden nach und nach Knorpel, Knochen und Halteapparat des betroffenen Gelenks zerstört. Die Deformierung der Gelenke bringt eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung mit sich. Am Ende versteifen sich die Gelenke oft völlig.
Eine eigentümliche Rolle spielt der sogenannte Rheumafaktor. Er ist ein Antikörper, der gegen körpereigene Antikörper aktiv wird, nämlich solche der Klasse IgG. Welchen Anteil er an der Entstehung der Symptome hat, ist nicht klar. Aber man findet ihn bei den meisten Rheumakranken.
Bislang war die Therapie der rheumatoiden Arthritis darauf beschränkt, Schmerzen zu lindern und die Entzündungsherde mit hemmenden Mitteln unter Kontrolle zu halten. Mittlerweile gibt es aber einen vielversprechenden neuen Ansatz. Mit modernen Medikamenten wird direkt in die Aktivitäten des Immunsystems eingegriffen.
Der Tumornekrosefaktor (TNF-α) ist einer der "gefährlichsten" Botenstoffe (Zytokine) des Immunsystems. Er aktiviert am Entzündungsherd Fresszellen, die im Gelenk Abbau-Enzyme abgeben. Zwei neue Substanzen hemmen TNF-α. Etanercept wirkt wie ein Rezeptor für TNF-α; es bindet das zerstörerische Molekül. Infliximab ist ein monoklonaler Antikörper, der an TNF-α andockt und ihn auf diese Art blockiert. So können die wesentlichen Zerstörungsprozesse in den Gelenken tatsächlich aufgehalten werden. Das Körpergewebe bekommt eine Chance, sich wenigstens dort, wo es noch möglich ist, zu regenerieren.
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- Arthrose des Daumengelenks
Man hat allerdings festgestellt, dass nicht bei allen Patienten beide Medikamente anschlagen. Es scheint Abweichungen im genetischen Code zu geben, die für die Empfänglichkeit der Medikamente maßgeblich sind. In noch neueren Ansätzen versucht man mit Interleukinen die Zytokine zu blockieren, die den TNF-α steuern.
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- Lupus
B-Zellen-Verwechslung - Lupus
Beim Lupus (eigentlich: systemischer Lupus erythematodes (SLE)) sind es Antikörper, die das körpereigene Gewebe befallen. Die B-Zellen reagieren zunächst auf ein falsches Signal und beginnen Antikörper zu bilden, die sich gegen körpereigene Strukturen richten. Bei SLE sind das Oberflächen von Zellen der Blutgefäße und des Bindegewebes. Die Antikörper docken an den Zellen an und verklumpen mit ihnen. So bilden sich schmerzhafte Entzündungsherde.
Bislang wurde Lupus mit entzündungshemmenden Mitteln behandelt. So ließen sich die Symptome, nicht aber die Ursache der Krankheit bekämpfen. Ein neueres Verfahren versucht, die schädlichen Antikörper aus dem Blut des Betroffenen zu entfernen. Dafür wendet man eine Methode an (genannt Plasmapherese), die das Blutplasma von den festen Bestandteilen des Blutes trennt. Die schädlichen Antikörper und die Verklumpungen werden aus dem Blut des Patienten herausgewaschen.
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- Stammzellen
In schwersten, therapieresistenten Fällen setzt man neuerdings eine höchst aggressive, der Krebstherapie entlehnte Behandlungsmethode ein: die Hochdosis-Chemotherapie mit anschließender Transplantation autologer (d. h. dem Patienten selbst zuvor entnommener) Stammzellen. Die Chemotherapie soll die zerstörerischen Bestandteile des Immunsystems vernichten. Aus den Stammzellen sollen danach frische "unbescholtene" Immunzellen nachwachsen.
An der Berliner Charité sind bereits Patienten mit lebensbedrohlichem SLE auf diese Weise behandelt worden. Nach der Stammzelltransplantation waren sie frei von Krankheitszeichen. Die typischen Autoantikörper im Blut waren verschwunden und die Entzündungszeichen zurück gegangen. Bei den erfolgreich behandelten Patienten scheint das Immunsystem - zumindest vorläufig - die Krankheit nicht weiterzuführen. Offenbar wurden die selbstzerstörerischen Lymphozyten und ihre Antikörper erfolgreich eliminiert. Von einer Heilung wagen die Experten aber noch nicht zu sprechen. Weltweit sind bislang etwa 300 Stammzellentransplantationen bei Autoimmunerkrankungen durchgeführt worden. Bei einigen Patienten schlug die Behandlung leider nicht an, einige erlagen sogar den Folgen der Operation. Wegen der nicht unerheblichen Risiken bleibt die Stammzelltransplantation vorläufig nur lebensbedrohlichen Krankheitsbildern vorbehalten.