Boccia - die Entstehung des Spiels
"Das Leben ist Spiel und Spiel ist Leben" So könnte das Motto lauten, wenn man sich die Spielkultur in Italien anschaut: Ein intensives Miteinander im spielerischen Kräftemessen, im Bewältigen immer neu erdachter oder erspielter Situationen.
[Bild Vergrößerung] Besondere Gültigkeit hat dieses Motto für ein in Italien weit verbreitetes Spiel: Für das Boccia.
Hier treffen sich Menschen - überwiegend Männer - aller Altersgruppen und sozialer Herkunft, um nach einem ausgefeilten Regelwerk ihre "Bocce" (= Kugeln aus Hartholz, Kunststein oder Metall) in die Nähe des zuvor geworfenen "Pallinos" (= Schweinchen) zu "schießen" (= Wurf, bei dem eine "gegnerische" Kugel weggeschossen wird) oder zu "legen" (= Wurf, bei dem die Kugel in die Nähe des Bestimmungsorts rollt).
Gespielt wird auf eigens präparierten Freiluftbahnen - bei dem Bocciadrom - oder, wenn der Wettkampfcharakter stärker ist, in speziellen Hallen. Je nach Anspruch des Bocciaclubs überwiegt das engagierte Trainieren, das dann zu nationalen und internationalen Erfolgen führen kann oder das "Spielen, Reden und Weintrinken", das dann die Alltagskultur des Ortes oder Stadtteils prägt.
La Storia delle Bocce...
Boccia ist eine italienische Variante des Spielens mit Kugeln, das schon seit Jahrhunderten Menschen zu faszinieren scheint. Dabei sind verschiedene Spielformen entstanden. Erste Anfänge können bis in die Steinzeit zurück verfolgt werden. Im 13. Jahrhundert spielte man in ganz Europa "a Bocce". Die große Beliebtheit des Spiels führte dazu, dass Karl der IV. von Frankreich 1319 das Boccia-Spiel verbot, denn das Volk sollte sich mit strategisch wertvollen Spielen wie Bogen- und Armbrustschießen unterhalten.
Im 14. Jahrhundert stellten Ärzte an der Universität in Montpellier fest, wie gesund das Bocciaspielen sei - auch gegen Rheumatismus! Im 15. Jahrhundert war Paris im Boules-Fieber, die zukünftigen Boulevards waren optimale Spielfelder. Da im Grünen gespielt wurde, hießen die Kugeln "Boules vertes", aus dem Spielfeld wurde später der "Boulevard".
Heinrich der VIII. von England verbot 1511 per Statut das Bocciaspielen aus Gründen der Volksmoral, denn die Arbeit ruhte wegen der ausgeprägten Spielleidenschaft und viele verloren Hab und Gut im Spiel. Bei Hof war das Spiel weiterhin erlaubt und später gab es Ausnahmen für Handwerker, Künstler und Bedienstete, die z.B. an Weihnachten in den Herrenhäusern spielen durften. Allmählich weitete sich das "Weihnachtsboccia" wieder auf das ganze Jahr aus, wurde in England allerdings nicht öffentlich gespielt. Wer mindestens 100 Sterling Grundbesitz hatte, konnte sich eine Spiellizenz kaufen und auf seinen Wiesen Boccia-Spiele veranstalten.
In Venedig waren zu dieser Zeit alle öffentlichen Strassen, Plätze und Gässchen von Boccia-Spielern allen Alters überschwemmt, die mit ohrenbetäubendem Lärm Tag und Nacht spielten. Auch die Dogen fürchteten um die öffentliche Ordnung und erließen 1576 einen Erlass gegen das Spielen auf öffentlichen Plätzen. Bei Zuwiderhandlung drohten 10 Monate Gefängnis! Ähnliche Erlasse gab es in Rom und Florenz.
Um das Boccia rankt sich viel Geschichte und viele Geschichtchen: So soll Sir Francis Drake noch am 20. Juli 1588 erst eine Partie Boccia beendet haben, bevor er die spanische Armada versenkte und Ludwig der XIII. verbot 1638 das Spielen im Stadtzentrum von Paris, um die öffentliche Ordnung nicht zu gefährden.
[Bild Vergrößerung] Konnte doch aus der Menschenansammlung schnell ein aufständischer Haufen werden.
In Deutschland hat das "Boccia" übrigens Konrad Adenauer populär gemacht. Verbrachte er doch seine zahlreichen Italienurlaube überwiegend auf der Boccia-Bahn und ließ sich gerne dabei filmen (Archivmaterial). Noch heute gibt es in Cadenabbia am Comer See das Hotel "Villa La Collina" mit der "Accademia Adenauer" und wunderschön gelegenen Boccia-Bahnen im Park.
Boccia heute
Im Laufe der Jahrhunderte haben sich unterschiedliche Spielformen und Varianten entwickelt. Am bekanntesten ist das französische Boule - genannt Pétanque - das auf Plätzen gespielt wird. Im englischen Sprachraum hat sich "Bowls" mit einem entsprechenden Regelwerk ausgebreitet und in Italien gibt es zwei Boccia-Varianten:
[Bild Vergrößerung] Das in Süditalien verbreitete "Raffa" - die Bahnen sind klar umgrenzt und die Bande wird mit einbezogen - und das in Norditalien beliebte klassische "Boccia", das auf mit einem Strich markierten Bahnen gespielt wird. Die Wiege des Boccias liegt bei Turin. Hier wurde im Jahr 1873 der erste Club - "Cricca Boccio Fila Dei Martiri" - gegründet. In Turin gibt es auch eine "Boccia-Fabrik" und viele erfolgreiche Spieler kommen aus dem Piemont.
Das Spiel mit den Kugeln war und ist wohl so beliebt, weil es fast an jedem Ort gespielt werden kann, wenig Aufwand an Ausrüstung voraussetzt und schnell gelernt werden kann. Reizvoll für die Spieler ist auch der "Tempowechsel" innerhalb des Spiels: So folgt auf die konzentrierte Phase des Werfens eine - oft wort- und gestenreiche - Phase des Ausmessens, dann eine Phase des bangen Blickens auf den Wurf des Gegenspielers bis dann der nächste eigene Wurf ansteht.
Ein Spiel kann - je nach Vermögen der Mitspieler - zwischen 15 Minuten und 3 Stunden dauern. Gespielt wird im Solo oder in Mannschaften zu zweit oder zu viert.
Das Boccia-Spielen kannte nie soziale Barrieren, war aber überwiegend Männersache, obwohl es Frauen nicht ausdrücklich verboten war. Heute gibt es gemischte Teams und reine Frauenwettkämpfe. Allerdings wird besonders in Italien das Club-Leben noch von den Männern dominiert.