Einleitung
Psychologie stößt in der Kursstufe / Sek.II bei den Schülerinnen und Schülern auf großes Interesse, auch altersbedingt sind sie dafür sehr motiviert: „Auf dem Weg […] , ihre eigene Identität auszubilden“, zeigen sie sich „offen für wissenschaftlich fundierte psychologische Erklärungen, weil diese ihnen helfen, eigenes und fremdes Erleben und Verhalten besser zu verstehen“. Dazu gehört auch und gerade die Beschäftigung mit psychischen Störungen, was die unterrichtliche Aufgabe zur Herausforderung macht:
- Zunächst bringen viele Schüler falsche Vorstellungen von der Psychologie mit: „Sie reduzieren sie auf die Angewandte, speziell auf die Klinische Psychologie und verbinden sie mit Einzelfallhilfe und Therapie“. Bei der Thematisierung im Unterricht muss also gerade in diesem Bereich mit mitgebrachten Klischees gerechnet werden, die hier beispielhaft dafür sorgen können, dass Schüler „zwischen Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie unterscheiden“ lernen. (Bildungsstandards Psychologie Kursstufe, Bildungsplan Gymnasium, Baden-Württemberg 2004, S.452 f.)
- Viel schwerer wiegt noch, dass nicht wenige ihren Klärungsbedarf mit bangen Fragen um die eigene psychische Gesundheit und Leistungsfähigkeit verbinden. Weil es „nicht Ziel des Psychologieunterrichts“ sein kann, „einzelnen Jugendlichen therapeutische Hilfestellungen zu geben“, (Psychologie 11/12 Fachlehrplan, Lehrplan für das Gymnasium in Bayern, sowie der Fachverband für Psychologielehrer) ist die Lehrkraft bei „Gezeichnete Seelen“ gefordert, methodisch geschickt und mit guter Kenntnis ihrer Schülerinnen und Schüler unterrichtlich zu agieren. Die Clips bieten dazu durch ihre anschauungsreduzierte (nur „gezeichnete“!) Machart einen hilfreichen, weil hinreichend distanzierenden Zugang an.
Um die Beschäftigung mit „Gezeichnete Seelen“ im Psychologieunterricht auf einer soliden fachlichen Basis leisten zu können, wird immer wieder auf zwei verbreitete und in mehreren Auflagen bewährte Lehrwerke für Psychologie-Studienanfänger verwiesen: das von Gerrig/Zimbardo und das von David Myers (2. Aufl.2008, mit empfehlenswertem Online-Lerncenter). Eine Basisinformation bieten die Wissenspoole der SWR-Portale Planet Schule (auch direkt zu den Clips) und Planet Wissen.
Daneben ist die Qualität einschlägiger Artikel bei Wikipedia, auf die immer wieder verwiesen wird, im Einzelnen zwar stets zu überprüfen, aber nicht zu verachten – zumal sie vermutlich den primären Zugang der Schülerinnen und Schüler bei der Informationsbeschaffung darstellen.
Ziel: Verständnis für psychische Erkrankungen schaffen
Psychische Störungen werden immer noch gesellschaftlich tabuisiert, für Betroffene besonders spürbar am Arbeitsmarkt, auf den hin sich Schülerinnen und Schüler ja orientieren wollen. Sie im Psychologieunterricht zu thematisieren bietet deshalb eine gute Gelegenheit, für Verständnis zu werben, Stigmatisierung und Vorurteile abzubauen und im Sinne frühzeitiger therapeutischer Interventionsmöglichkeit die Aufmerksamkeit zu schulen.
Dabei wird es aber auch sehr entscheidend sein, zu einem reflektierten Umgang mit dem Begriff der Krankheit anzuleiten: Gerade Deutschland hat durch die NS-„Gesundheitspolitik“ eine unselige und schreckliche Geschichte, mittels solcher Etikettierung Menschen auszusortieren, ihr Lebensrecht zu bestreiten und sie in letzter Konsequenz zu töten (siehe hierzu auch die Sendung: Grafeneck – die Mordfabrik auf der Schwäbischen Alb). So hat das Pendel im Gefolge der 68er aber auch schon auf die andere Seite ausgeschlagen: Die Berechtigung des Begriffs „psychische Krankheit“ überhaupt wurde von radikalen Kritikern infrage gestellt (z.B. Michel Foucault), weil zu deutlich von herrschenden gesellschaftlichen Interessen bestimmt. Im Zuge dieser Kritik der Anti-Psychiatrie-Bewegung sind z.B. in Italien auch schon psychiatrische Anstalten einfach geschlossen worden. Eine diagnostische Etikettierung verwendet heute besser den Ausdruck „psychische Störung“ und muss für Schülerinnen und Schüler erkennbar den Weg zwischen potenziellen Gefahren und Vorteilen (Probleme und Gefahren der Etikettierung, Myers 749-756) für Betroffene finden, besonders wenn hinzukommt, dass für nicht wenige der in den Filmclips gegebenen Erlebnisberichte „mangelnde Krankheitseinsicht“ (Fachbegriff: Anosognosie) mit zum Symptomensemble gehört. Einblicke in heutzutage international anerkannte Symptomklassifizierungen nach DSM-V („Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ bzw. ICD-10) können in eine sachliche und dem Anliegen des Klientenwohls dienende Richtung weisen.
Fächerübergreifender Bezug
Mit im wahrsten Sinne des Wortes „gezeichneten“ Seelen eröffnet die Filmclipreihe in ihrer ästhetisch-künstlerischen Eigenart einen fächerübergreifenden Zugang (Bildende Kunst): In den 1920er Jahren hat der Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn in Heidelberg eine weltweit einmalige Sammlung von Gestaltungen psychiatrischer Patienten aufgebaut und veröffentlicht, die heute in einem Museum der neurologischen Klinik zugänglich ist – es würde sich auch eine Exkursion zu den wechselnden Ausstellungen dort anbieten. Von der Sammlung Prinzhorn sind wesentliche Impulse zur Kunst in der Moderne ausgegangen, von hier aus stellen sich Fragen nach dem Verhältnis von Schaffenskraft und innerem Bilderleben, therapeutischen Möglichkeiten und dem Verhältnis von Wahn und Wirklichkeit insgesamt. Somit hätten Schülerinnen und Schüler bessere Möglichkeiten, die Bebilderung der Erlebensschilderungen in „Gezeichnete Seelen“ auch ästhetisch zu wahrzunehmen.
Ebenso ist der Kontakt zum Themenfeld „Wirklichkeit“ des Bildungsplans Evangelische Religionslehre (Baden-Württemberg 2004, Kursstufe 2/4-stündig, S. 34/36) herstellbar, ja sogar ein Seminarkurs zu diesem Themenkomplex denkbar. Die therapeutische Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen lässt nach Meinung von Experten in Deutschland aktuell offensichtlich zu wünschen übrig. Der Psychologieunterricht kann im Rahmen seiner Möglichkeiten mithilfe dieses einzigartigen Filmangebots dazu beitragen, interessierte Jugendliche auf ein lohnendes und hilfreiches berufliches Betätigungsfeld aufmerksam zu machen.
Einsatz der Clips im Unterricht
An vielen Gestaltungsmerkmalen ist zu erkennen, wie die eindrückliche filmisch-animatorische Bebilderung der Fallschilderungen psychopathologische Kenntnisse von Symptomen, Erklärungsansätzen und Krankheitsverläufen mitliefert.
Gleichwohl ist es für einen (so weit wie nur irgend möglich) realistischen Eindruck davon, wie Hilfesuchende psychologisch ausgebildeten Fachkräften begegnen, erforderlich, zunächst auf das Erzählte aufzubauen: Die Schilderung der Klienten ist ja normalerweise die Anfangsgrundlage für psychotherapeutische Arbeit. Dafür sind Verbatims (Materialblätter 1-4) die Methode der Wahl, solche Gesprächsprotokolle gehören zum klassischen Methodenrepertoire nicht nur psychologischer Forschung, sondern gerade auch vieler psychotherapeutischer Schulrichtungen. Um Präjudizierungen zu vermeiden, sollten diese als Schülerverteilmaterial in der folgenden Unterrichtsstrecke immer ohne Titel und Diagnose, aber mit dem Namen des/der britischen Originalsprechers/in ausgedruckt werden.
Für die gesamte Unterrichtseinheit können zehn Stunden à 45 Minuten veranschlagt werden. Für manche Themenkomplexe sind dabei 90-minütige Doppelstunden ratsam. Nach der 1./2. Stunde kann die Unterrichtseinheit auch über einen längeren Zeitraum verteilt werden – vorteilhaft für die Anleitung zur rechtzeitigen häuslichen Schüler-Vor-/Nacharbeit.
Stundenentwürfe zu den einzelnen Clips
Materialsammlung
Arbeitsblätter
Hinweis:
„Ein Fremder auf dem Schulhof”
Hier erfolgt aufgrund der im Mai 2013 zu erwartenden Neuordnung der diagnostischen Kriterien im maßgeblichen DSM V der APA (American Psychiatric Association) zu einem „autism spectrum disorder“ kein ausgeführter Unterrichtsverlauf.
Auch aufgrund der eher biologisch-hirnorganischen Ätiologie kann hier nur auf einschlägige Abschnitte in den Lehrwerken (z.B. Myers 164, Zimbardo 588f.) verwiesen werden. Es wird angeregt, mithilfe des Verbatims typische Merkmale, z.B. im Zusammenhang mit der Untersuchung der sich im Kindesalter entwickelnden „theory of mind“ (Myers 163 mit anschaulicher Visualisierung des Versuchsaufbaus), soziale Begleiterscheinungen und Folgewirkungen zu erarbeiten.
Empfohlen sei zudem die Beschäftigung mit Spielfilmen (Ben X) und Dokumentationen (Wrong Planet, Auszug zum Download auf Planet Schule mit Wissenspool), die die Schicksale autistischer Jugendlicher behandeln. Ebenfalls bei Planet Schule online: Die Sendung: Was ist Autismus?.
© Text: Pfarrer Michael Beisel ist Studienleiter für Medienpädagogik am Religionspädagogischen Institut der Evangelischen Landeskirche in Baden und theologischer Referent am Landesmedienzentrum Baden-Württemberg. Er hat neben Evangelischer Religionslehre mehrere Jahre Psychologieunterricht in der Kursstufe am Karlsruher Lessing-Gymnasium erteilt. Während seines Studiums absolvierte er ein mehrmonatiges pflegerisches Praktikum in einer Nachsorgeeinrichtung für Psychiatriepatienten, Stand 2012
Übersicht Lehrpläne
a. Psychologie:
Baden-Württemberg - Kursstufe Sek. II Gymnasium, 2004: http://www.bildung-staerkt-menschen.de/service/downloads/Bildungsstandards/Gym/Gym_Psych_wb_bs.pdf
Rheinland-Pfalz: Lehrplan für das berufliche Gymnasium, Unterrichtsfach Psychologie, Pädagogisches Landesinstitut 2012: http://bbs.bildung-rp.de/fileadmin/user_upload/bbs/bbs.bildung-rp.de/materialien/lehrplaene/Lehrplan_2012/BG_Lehrplan_Komplett_Psychologie.pdf
Saarland: Lehrplan Psychologie Fachoberschule Fachbereich Sozialwesen, Saarland, Ministerium für Bildung, Saarbrücken 2011: http://www.saarland.de/dokumente/thema_bildung/LP_FOS-S_Psychologie.pdf
Nordrhein-Westfalen: Lehrplan Psychologie Sekundarstufe II - Gymnasium/Gesamtschule http://www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/lehrplaene/upload/lehrplaene_download/gymnasium_os/4729.pdf
b. Evangelische Religionslehre
Baden-Württemberg Bildungsplan 2004 Evang. Religionslehre Kursstufe Gymnasium, ab S. 34 (Dimension: Welt und Verantwortung, Themenfeld: Wirklichkeit): http://www.bildung-staerkt-menschen.de/service/downloads/Bildungsstandards/Gym/Gym_evR_bs.pdf
Literatur/Links
Gerrig, J.G., Zimbardo,P.: Psychologie, München 2008
Myers, David.: Psychologie, Heidelberg 2008
Prinzhorn, H.: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie
der Gestaltung, Berlin 1922, online digitalisiert:
http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/prinzhorn1922