Buchstabensalat im Kopf
„Analphabetismus? In Deutschland? Wie ist das möglich?“ So oder ähnlich reagieren viele Menschen, wenn sie erfahren, dass es laut einer Studie der Universität Hamburg (Grotlüschen/Riekmann 2011) hierzulande rund 7,5 Millionen funktionale Analphabeten gibt. Trotz allgemeiner Schulpflicht können die Betroffenen weder richtig lesen noch richtig schreiben.
„Ich bin halt ganz normal in die Schule gekommen und hatte halt gleich zu Anfang Schwierigkeiten“, erzählt Torsten, einer der Protagonisten im Film. „Ich hätte mir schon Unterstützung gewünscht von der Lehrerseite, aber wir waren 20 Schüler in der Klasse. Und da kann nicht der Lehrer jeden Einzelnen wirklich unterstützen, weil, der muss sehen, dass er die Masse durchkriegt. Und das ist dann schon ein bisschen schwierig. Da bleibt halt einer auf der Strecke.“
So erging es auch Marcel. Auf der Sonderschule, die er neun Jahre besuchte, hatte das Fach Deutsch keinen hohen Stellenwert. „Die Lehrer haben immer gesagt ‚lesen ist nicht so wichtig [...] Marcel braucht das im Leben nicht.’ Ich war immer der Außenseiter.“ (Marcel)
Luc, der noch zur Schule geht, hat ein Faible für Elektronik und baut vieles selbst. Dabei hat er Erfolgserlebnisse, die er früher in der Schule nicht hatte. In der Schule und zu Hause verweigerte er früher das Lesen total. Stattdessen lernte er Gehörtes auswendig und konnte seine Leseschwäche dadurch überspielen. Sein Vater erklärt, lesen habe Luc einfach keine Freude gemacht. [„...], es war Quälerei.“
Luc, Marcel und Torsten eint nicht nur der Wille, lesen und schreiben zu lernen. Alle drei beweisen Mut, indem sie offen über ihre Probleme und ihre Entwicklung sprechen.
Funktionaler Analphabetismus
Es gibt unterschiedliche Ausprägungen von Analphabetismus. Absoluter Analphabetismus bedeutet, dass jemand eventuell einzelne Wörter wie beispielsweise seinen Namen schreiben, jedoch weder Sätze lesen noch verstehen kann.
Funktionaler Analphabetismus hingegen hat viele Gesichter. Daher dienen Definitionsversuche lediglich als Orientierungshilfe.
Generell heißt es: Funktionale Analphabeten können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, sind jedoch nicht in der Lage, zusammenhängende Texte wie zum Beispiel eine Bedienungsanleitung oder einen ärztlichen Befund zu lesen und zu verstehen. Sie können die Schriftsprache im Alltag also kaum anwenden und erst recht nicht für sich nutzen.
Peter Hubertus, Alphabetisierungsexperte und Gründungsmitglied des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung, weist auf die Bedeutung des gesellschaftlichen Kontextes hin:
„Ob eine Person als Analphabet gilt, hängt nicht nur von ihren individuellen Lese- und Schreibkenntnissen ab. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, welcher Grad an Schriftsprachbeherrschung innerhalb der konkreten Gesellschaft, in der diese Person lebt, erwartet wird. Wenn die individuellen Kenntnisse niedriger sind als die erforderlichen und als selbstverständlich vorausgesetzten Kenntnisse, liegt funktionaler Analphabetismus vor.“ (Hubertus, 1991)
Die Folge: Für funktionale Analphabeten ist eine normale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben oft gar nicht oder nur eingeschränkt möglich.
Angst und Isolation
Der Leidensdruck der Betroffenen ist groß. Alltägliche Aufgaben empfinden sie als belastende Herausforderungen mit unzähligen Hürden und Hindernissen. Informationen erschließen sich ihnen nur bedingt. Das betrifft den Komplex Schule und Beruf aber auch die Bereiche Gesundheit, Freizeit und Partnerschaft. Unser Leben ist von einer steten Textflut geprägt: Miet- und Kaufverträge, Fahrpläne, Kontaktanzeigen, Kino- und Theaterprogramme, Patienteninformationen, Beipackzettel von Medikamenten etc. – ¬man könnte die Liste endlos weiterführen.
Wer beim Lesen versagt, der ist raus. Kein Wunder, meiden funktionale Analphabeten aus ihrer Sicht schwierige Situationen und ziehen sich ins private Schneckenhaus zurück. Versagensängste und Minderwertigkeitsgefühle drängen sie an den Rand der Gesellschaft.
Nationale AlphaDekade
Lange Zeit war das Thema Analphabetismus in Deutschland tabu. Man ordnete die Problematik eher strukturschwachen Ländern und Regionen zu, in denen aus Gründen wie Armut oder Krieg Bildungsnot herrscht. Doch mittlerweile wird Analphabetismus zunehmend auch als nationales Problem erkannt. Bund und Länder riefen 2015 die Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung (AlphaDekade) aus. Bis 2026 soll die Lese- und Schreibfähigkeit von Erwachsenen in Deutschland maßgeblich verbessert und das Thema in die breite Öffentlichkeit getragen werden. Für die Kampagne stellte das Bundesbildungsministerium Fördergelder bis zu 180 Millionen Euro zur Verfügung. (bmbf 2019)
Ursachen
Die Gründe für funktionalen Analphabetismus sind vielfältig. Fakt ist: Ein Großteil der Betroffenen fällt früh durchs Raster. Torsten hat es erlebt. Er kam in der Schule nicht mit. „Aber weil ich kein anerkannter Legastheniker war, kriegte ich auch keinen Förderunterricht.“ (Torsten)
Marcel war als Kind lange Zeit krank. Aufgrund seiner Lese-und Schreibschwäche verpasste er schulisch den Anschluss und verlor Freunde. „Die haben gedacht, ja ich hab ‘nen Schuss weg.“ (Marcel) Mit 11 Jahren wog Marcel 110-120 Kilo. Er wurde von seinen Mitschülern gehänselt und misshandelt.
Schulen sind auf Problemfälle in der Regel nicht vorbereitet. Aufgrund hoher Schülerzahlen, Personalmangel und straffem Lehrplan fehlen die Voraussetzungen für eine individuelle Betreuung. Luc macht Fortschritte, seit er in die Lernberatung geht. Seine Therapeutin erleichtert ihm mithilfe spielerischer Methoden das Lesen und Schreiben lernen. Eine derart persönliche Unterstützung erfahren nur wenige.
Die meisten funktionalen Analphabeten rutschen regelrecht durch die Schulzeit. Sie hangeln sich von Klasse zu Klasse und fallen häufig erst spät durch totale Verweigerung oder aggressives Verhalten auf. Lehrer haben in der Regel zu wenig Zeit, sich angemessen um diese Schüler zu kümmern.
Trotz großem Einsatz ist es ihnen nicht immer möglich wirklich zu helfen. Nicht selten besteht die einzige Maßnahme darin, sie die Klasse wiederholen zu lassen.
Eine weitere Ursache für Analphabetismus liegt in prekären Familienverhältnissen. Diese hindern Kinder daran, eine ihrem Alter angemessene Lese- und Schreibkompetenz zu entwickeln. Scheidungskonflikte, Suchterkrankungen in der Familie, Gewaltanwendung und/ oder mangelnde Fürsorge, aber auch „vorgelebter“ Analphabetismus durch einen oder beide Elternteile – all diese Faktoren können funktionalen Analphabetismus hervorbringen und fördern.
Der Deutschdidaktiker Prof. Dr. Sven Nickel von der Universität Bremen bringt es auf den Punkt „Funktionaler Analphabetismus – als ein multikausales Problem – ist kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches und strukturelles Problem. Es entsteht im Zusammenspiel individueller, familiärer, schulischer und gesellschaftlicher Faktoren.“ (Nickel 2019)
Vorurteile
Nur wenige funktionale Analphabeten gehen mit ihrer Schwäche offen um. Herrscht doch vielerorts die Ansicht, dass Analphabeten entweder Migrationshintergrund haben und/oder arbeitslos, dumm und sozial nicht integriert sind. Doch die Realität sieht anders aus: Jeder zweite funktionale Analphabet spricht Deutsch als Muttersprache, rund 80% der Betroffenen haben einen Schulabschluss und rund 57% gehen einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach. (Grotlüschen/Riekmann 2011)
Mangelndes Selbstwertgefühl
Nicht nur die Anderen, auch Analphabeten selbst messen ihren persönlichen Wert oft allein an ihrer mangelnden Lese- und Schreibfähigkeit. „Es ist normal, irgendwelche Schwächen zu haben [...] aber letztlich ist es eine Schwäche, die man hat“, betont die Dozentin Susanne Kiendl von der Volkshochschule Hamburg im Film. Tatsächlich verfügen funktionale Analphabeten häufig über Ressourcen, die bei Kollegen und Arbeitgebern hoch im Kurs stehen. Michael Johansen, Torstens Arbeitsvorbereiter, kann dies bestätigen. Er bescheinigt Torsten gute Sozialkompetenzen, lösungsorientiertes Arbeiten, technisches Verständnis und Zuverlässigkeit.
Nur nicht auffallen
Viele funktionale Analphabeten sind wahre Meister im „Schummeln“. Mit ausgeklügelten Strategien und Tricks mogeln sie sich durch den Alltag. Sätze wie „Ich habe meine Brille vergessen“ oder „meine Hand ist verstaucht, bitte schreiben Sie das für mich auf!“, sind gängige Praxis. Ein gutes Gedächtnis ist dabei zweifellos von Vorteil.
Marcel hat vier Jahre in einem Lotto-Laden gearbeitet. „Das Gute bei mir, ich kann mir ja viel merken. Ich habe mir immer dann die Zigaretten angeguckt, die Marken [...] die Namen habe ich mir dann gemerkt [...] ein bisschen getrickst [...].“ (Marcel) Auch der Schüler Luc setzte im Unterricht auf seine gute Merkfähigkeit.
Raus aus der Abhängigkeit
„Eingeweihte“ Personen, Menschen aus dem privaten Umfeld von Analphabeten, bemühen sich oft zu helfen, indem sie die Betroffenen decken. Sie übernehmen Aufgaben und erfinden Ausreden. Dadurch verhindern sie jedoch, dass der Betroffene lernt, eigenständig zu handeln.
Möchten funktionale Analphabeten ihre Lese- und Schreibkompetenz verbessern, dann müssen sie sich in vielen Fällen auch aus der Abhängigkeit von nahen Bezugspersonen lösen. Dies gelingt nur, wenn sie bereit sind, auch außerhalb der gewohnten Beziehungen Unterstützung anzunehmen.
Torstens Vater las in der Zeitung von einem Kurs an der vhs Hamburg und gab diese Information an seinen Sohn weiter. Betroffene sind auf solche Tipps und Hinweise angewiesen. Aufgrund ihrer vorhandenen Leseschwäche gestaltet sich die direkte Ansprache von Analphabeten als extrem schwierig. Hier ist Kreativität gefragt. So setzten die Volkshochschulen bereits auf außergewöhnliche Mittel, indem sie beschriftete Bierdeckel und Bäckereitüten in Umlauf brachten.
Die Volkshochschulen gehören zu den größten Anbietern für Alphabetisierungskurse. Sie beraten, begleiten und unterstützen Betroffene nach deren individuellen Bedürfnissen. Auch kirchliche Träger, gemeinnützige Institutionen und zahlreiche lokale Initiativen bieten Kurse an.
Perspektiven
Der Film zeigt deutlich: Funktionaler Analphabetismus geht alle, die Gesellschaft als Ganzes, an. Familienmitglieder und Freunde ebenso wie Lehrer, Schulkameraden, Kollegen oder Arbeitgeber sollten reagieren, wenn sie Betroffene kennen. Analphabetismus kann man überwinden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Betroffenen viel Energie und Geduld aufbringen. Für Marcel, Luc und Torsten hat sich der Aufwand gelohnt. Die drei können positiv in die Zukunft blicken. Es wäre schön, wenn ihr Beispiel Schule macht.
Mögliche Anzeichen für eine mangelnde Schriftkompetenz:
• ein ungeübtes Schriftbild – häufiges Ansetzen
• das Vertauschen von Buchstaben
• falsche Proportionen beim Schreiben von Buchstaben
• ein auffallend langsames oder schnelles Schreibtempo
• eine verkrampfte/ angespannte Schreibhaltung
• extreme Ungeduld/ Nervosität beim Schreiben
• totale Verweigerung oder schnelles „Hinschmeißen“
Das „Aufspüren“ von Analphabetismus erfordert jede Menge Fingerspitzengefühl. Klarheit über die tatsächliche Lese- und Schreibkompetenz erhalten Lehrer durch Schreibtests und durch das persönliche Gespräch. Oft sind funktionale Analphabeten erleichtert, wenn sie „auffliegen“. Ist dies der Fall, sollte umgehend der Hinweis auf Hilfsangebote folgen.
Quellen
• Grotlüschen/ Riekmann „leo.-Level-One Studie“, http://blogs.epb.uni-hamburg.de/leo/files/2011/12/leo-Presseheft_15_12_2011.pdf
• Hubertus, Peter: Alphabetisierung und Analphabetismus. Eine Bibliographie. Hrsg.: Schreibwerkstatt für neue Leser und Schreiber e.V., Bremen 1991, S. 5., https://www.alphabetisierung.de/fileadmin/files/Bilder/Bundesverband/Definitionen_FA.pdf
• Bundesministerium für Bildung und Forschung, https://www.bmbf.de, 3/2019
• Sven Nickel, „Funktionaler Analphabetismus – Ursachen und Lösungsansätze hier und anderswo“,
http://elib.suub.uni-bremen.de/publications/ELibD890_Nickel-Analphabetismus.pdf,3/2019
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