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Wüstenrennmaus
Einführung
Versuch zur Trägheitswahrnehmung
Drehsinnesorgan
Verfrachtungsversuch
Vektornavigation
bei der Wüstenrennmaus
In
Lebensräumen wie Wüsten oder Steppen fehlen oft markante Landmarken, anhand
derer sich bodenbewohnende Tiere orientieren könnten. So geht es auch
der Wüstenrennmaus Meriones unguiculatus, die vor allem in steppenartigen
Landschaften oder Wüsten - z.B. der Gobi - natürlich vorkommt. Dennoch
ist das Orientierungsvermögen der Gerbils - wie die Tiere auch genannt
werden - hervorragend. Dies ist auch nötig, da sie bei der Nahrungssuche
in der Steppe weite Strecken zurücklegen müssen. Wildlebende Rennmäuse
laufen durchschnittlich ein bis zwei Kilometer am Tag; ein Versuchstier,
das zur Beobachtung farblich markiert war, lief sogar 50 km weit.
Die Wüstenrennmaus markiert Geländepunkte mit einem Sekret aus der Duftdrüse
am Bauch und findet diese mit Hilfe dann mit Hilfe ihres sehr guten Geruchsinnes
wieder. Doch wie orientiert sie sich, wenn diese Duftmarken verschwinden
(z.B. nach Regen) bzw. in unbekannten Gebieten, in denen noch keine Geruchsmarken
vorhanden sind?
In der Einführung wurde eine Orientierungsmethode erwähnt, die die auch
bei fehlenden Landmarken, schlechter Sicht, Nebel oder zur Erforschung
von unbekanntem Gelände eingesetzt werden kann: die Koppel- oder Vektornavigation.
Dabei misst ein Navigator Richtung und Entfernung, die pro Etappe zurückgelegt
wird. Er addiert die Streckenwerte aller zurückgelegten Etappen fortlaufend
und erhält so die augenblickliche Position relativ zum Ausgangspunkt.
Ohne Hilfsmittel wie Kompass, Uhr und Instrumente zur Messung von Geschwindungkeit
und Kursversetzung wäre ein Mensch zu dieser Art der Navigation kaum fähig
- wie verhält sich dies bei Tieren?
Das Beispiel der Wüstenameise Cataglyphis zeigt, dass Tiere fähig sind,
diese Art der Navigation durchzuführen: Sie vermögen die zurückgelegten
Entfernungen zu messen, die Winkel bei jeder Richtungsänderung zu bestimmen
und die Einzelmessungen in ihrem Gehirn zu einem Vektor aus Richtung und
Entfernung zu integrieren.
Funktioniert die Navigation bei den Gerbils auch auf diese Weise? Im Max-Planck-Institut
für Verhaltensphysiologie in Seewiesen beschäftigte sich Professor Dr.
Horst Mittelstaedt mit der Erforschung dieser Frage.
Versuche zur Trägheitswahrnehmung
Der Aufbau
der Versuchsreihe zur Orientierung und Navigation von Wüstenrennmäusen
ist verhältnismäßig einfach, wie die nebenstehende Abbildung zeigt: Eine
drehbare Arena, in deren Mitte sich eine drehbare Scheibe mit einem Behältnis
befindet. Die Wand der Arena ist bis auf einen Eingang zum Nest einer
Wüstenrennmaus geschlossen.
In das mittige Behältnis setzten die Forscher Rennmausjunge, die immer
dann, wenn sie die Nestwärme vermissen und zu frieren beginnen, nach ihrer
Mutter rufen. Das Eintragen der Jungtiere ist ein Instinkt, den Rennmausweibchen
(seltener auch Männchen) zeigen. Dabei bringen sie die Jungtiere unverzüglich
und auf dem direkten Weg ins Nest zurück.
Im
ersten Versuch werden die Jungtiere aus dem Nest entnommen und in das
Behältnis auf der Scheibe gesetzt. Das Rennmaus-Weibchen verlässt das
Nest und läuft zur Scheibe, die die Schale mit den Jungen trägt. Während
das Weibchen sich auf der Scheibe befindet, wird die Arena gedreht, so
dass der Nesteingang sich nicht mehr an der Stelle befindet, an der er
bei Versuchsbeginn war.
Wie das Video zeigt, läuft das Weibchen auf dem Rückweg direkt zu dem
Ort, an dem sich der Nesteingang vor dem Drehen der Arena befand.
[ Real-Video:
1.
Versuch ]

In Versuch Nr. 2 wird - bei sonst gleichen Versuchsbedingungen
- nicht die Arena, sondern die Scheibe in der Mitte gedreht, während das
Rennmaus-Weibchen sich darauf befindet.
Wie beobachtet werden kann, läuft das Versuchstier auf direktem Weg von
der Scheibe zum Nesteingang zurück.
[ Real-Video:
2.
Versuch ]
Der
dritte Versuch ist eine Wiederholung des zweiten - mit einem Unterschied:
Die Scheibe wird sehr langsam gedreht und ebenso langsam abgebremst.
Und auch das Verhalten der Rennmaus ändert sich, denn sie verfehlt beim
Rückweg ins Nest den Nesteingang um genau den Winkel, um den die Scheibe
mit dem darauf sitzenden Tier langsam gedreht wurde.
[ Real-Video:
3.
Versuch ]
Aus diesen Versuchsbeobachtungen schlossen Prof. Mittelstaedt und sein
Team, dass die Wüstenrennmaus fähig ist, den Winkel einer Drehung, der
sie ausgesetzt wurde, wahrzunehmen und auf ihrem (Rück-) Weg zu kompensieren.
Das "Trägheitsmessgerät", das die Wüstenrennmaus dazu befähigt: Die Bogengänge
im Innenohr, die das Drehsinnesorgan ausmachen. Ein Sinnesorgan, das alle
Säugetiere besitzen.
Das
Drehsinnesorgan der Säugetiere
Im Säuger-Innenohr liegen neben
dem eigentlichen Hörorgan, der Schnecke (Cochlea), auch die Lage- und
Drehsinnesorgane. Am Vorhof der Schnecke befinden sich zwei bläschenförmige
Erweiterungen, die Vorhofsäckchen, die jeweils ein Lage-Sinnenorgan enthalten.
Oberhalb der Vorhofsäckchen verlaufen drei senkrecht zueinander stehende,
flüssigkeitsgefüllte Bogengänge, die an einem Ende jeweils eine bauchige
Ausweitung - Ampulle genannt - zeigen (siehe nebenstehende Abbildung).
Diese Bogengänge sind Drehsinnesorgane, mit denen jede Richtungsänderung
registriert werden kann.
Der Drehsinn beruht darauf, dass die Strömung der Lymphe in den Bogengängen
registriert wird. Wie in einem mit Wasser gefüllten Topf das Wasser auf
Grund seiner Trägheit "stehenbleibt", wenn man den Topf dreht, bleibt
auch die Lymphe in den Bogengängen zunächst stehen, wenn Säugetiere den
Kopf und damit die Bogengänge drehen. In den Ampullen ist ein Strömungsanzeiger
eingebaut, der die Bewegung der Lymphe gegenüber der Gangwand misst: Von
der Außenseite jeder Ampulle ragt nämlich eine Gallertkappe in die Lymphe:
Wenn die Lymphe bei einer Drehung stehenbleibt, drückt sie auf die Gallertkappe
und biegt sie um. Die Härchen der Sinneszellen, die in die Kappe hineinragen,
werden dadurch verbogen. Dieser Reiz erregt die Sinneszellen. Nervenfasern
übernehmen die Erregungen und melden sie ins Gehirn.
Die drei Bogengänge sind in den drei Richtungen des Raumes angeordnet
und kommen auf beiden Seiten des Kopfes vor. Bei verschiedenen Bewegungen
sind auch die Informationen, die von den einzelnen Ampullen zum Gehirn
gelangen, verschieden. Das Gehirn erhält so einen genauen Eindruck von
allen Drehbewegungen.
Entsprechend registrieren die
Rennmäuse mit den "Messfühlern" in den Bogengängen des Innenohrs jede
Richtungsänderung. Drehende Kopfbewegungen bzw. schnelle Drehungen der
Rennmaus - wie in Versuch 2 - führen zu einer Bewegung der Lymphe, wodurch
wiederum Haarzellen abgebogen werden und damit die Gleichgewichtsempfindung
entsteht. Zudem sind Wüstenrennmäuse in der Lage, die genaue Länge der
zurückgelegten Wegstrecke zu registrieren. Wie das genau funktioniert,
ist noch Gegenstand weiterer verhaltensphysiologischen Untersuchungen.
Die Rennmaus berechnet ständig aus Richtungsänderungen und zurückgelegten
Wegstrecken den kürzesten Weg zurück zum schützenden Nest.
Erfolgt eine Drehung jedoch sehr langsam (Versuch 3), dann scheint die
Verbiegung der Haarzellen zu gering, um die Sinneszellen zu erregen.
Verfrachtungsversuche
Um
Vektornavigation durchführen zu können, muss ein Tier zum einen bei jeder
Richtungsänderung den entsprechenden Winkel bestimmen, zum anderen muss
es die zurückgelegten Entfernungen messen. Schließlich müssen beide Werte
verrechnet werden, um schnellstmöglich zum Ausgangspunkt zurückkehren
zu können. In einem weiteren Versuch wurde dies von den Verhaltensforschern
des Max-Planck-Instituts Seewiesen untersucht. Hierzu veränderten sie
den Versuchsaufbau (siehe nebenstehende Abbildung): Eine Platte. die mittels
eines Fadens verschoben werden konnte, wurde der Scheibe in der Mitte
der Arena untergelegt.
Die
wichtigsten Phasen des Versuchs sind in den nachfolgenden Abbildungen
dargestellt: Zu Beginn des Versuches läuft die Wüstenrennmaus auf die
Scheibe mit dem Jungtier (Abb. 1). Nach der Verschiebung der Platte und
damit nach der Verfrachtung der Rennmaus (Abb. 2) beobachteten die Forscher,
dass das Versuchstier auf dem Rückweg (Abb. 4) parallel zur ursprünglichen
Verbindungslinie zwischen Nesteingang und Scheibe (Abb. 1) läuft.
[ Real-Video:
Verfrachtungsversuch
]

Abbildung 1: Die Wüstenrennmaus läuft vom Nesteingang zum Behältnis
(roter Pfeil).
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Abbildung 2: Die Platte mit der Scheibe - auf der sich auch die Wüstenrennmaus
befindet, wird verschoben (schwarze Pfeile).
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Abbildung 3: Platte nach Ende der Verfrachtung.
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Abbildung 4: Bewegungsrichtung der Wüstenrennmaus (roter Pfeil) auf
dem Rückweg zum Nesteingang.
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In einem Kontrollversuch (ohne Abbildung) wurde
die Platte belassen, wo sie war (wie in Abb. 3). Die Wüstenrennmaus lief
vom Nesteingang geradewegs zur Scheibe mit dem Jungtier und auf dem Rückweg
direkt zum Nesteingang.
Dr. Mittelstaedt und sein Team schlossen aus den Ergebnissen, dass die
Wüstenrennmaus neben ihrer Richtung auch die Strecke misst, die sie vom
Nesteingang zur Scheibe zurücklegt und beide Werte verarbeitet, während
eine passive Verfrachtung nicht berücksichtigt wird. Die Forscher entwickelten
Hypothesen, womit die Rennmaus die Strecke ermittelt: a) mit Hilfe eines
Sinnesorgans, das die Stellung der Beine misst, d.h. Schrittweite und
-zahl, b) über den Energieverbrauch, den sie aufwendet, um sich vom Anfangs-
zum Endpunkt zu bewegen. Die Frage, welche dieser Hypothesen zutrifft,
konnte die Wissenschaft jedoch bisher nicht beantworten.
Doch anhand der Versuchsergebnisse entwickelten die Verhaltensforscher
ein Modell, wie die Verarbeitung der beiden Informationen - Drehwinkel
und zurückgelegte Strecke - funktionieren könnte.
In der nebenstehenden Abbildung steht
der Punkt A0/b0 für den Startpunkt der Bewegung der Wüstenrennmaus - bezogen
auf die o.a. Versuche also der Nesteingang. Die roten Quadrate zeigen
die Wegstücke, die die Wüstenrennmaus vom Startpunkt zum Umkehrpunkt (A3/b3)
zurücklegt.
Nach der Modellvorstellung der Forscher zerlegt das Nervensystem der Wüstenrennmaus
jeden Winkel, den sie von ihrer ursprünglichen Richtung abweicht, in zwei
zueinander senkrechte Komponenten. Diese beiden Werte werden über den
gesamten Weg aufsummiert. Somit entspricht jedes Wegstück, das die Rennmaus
zurücklegt, der Diagonalen eines Rechtecks, deren eine Seite senkrecht,
deren andere parallel zur Ausgangsrichtung liegt.
Das Tier muss während seines Weges die entsprechenden Seitenlängen der
Rechtecke speichern und aufsummieren, die es mit jeder Richtungsänderung
auf der Diagonalen durchlaufen hat.
Am Umkehrpunkt entsprechen die beiden Summenwerte den Seiten eines Rechtecks
(blau dargestellt), dessen Diagonale (blau dargestellt) den Umkehrpunkt
mit dem Startpunkt verbindet. So muss die Wüstenrennmaus so lange entlang
dieser Diagonale zurücklaufen, bis beide Summenspeicher leer sind, um
den Startpunkt schnellstmöglich zu erreichen.
Prof. Mittelstaedt nimmt allerdings an, dass die Wüstenrennmaus - die
in der Realität einen Zickzackweg zurücklegt - die Wegstreckenwerte nicht
aufsummiert, sondern integriert. D. h. der Winkel, der vom Sinnesorgan
gemessen wird, wird vom Zentralen Nervensystem in seine Komponenten zerlegt
und dann über den gesamten Weg hinweg aufintegriert. Entsprechend kann
das Tier am Umkehrpunkt den direkten (und schnellen) Weg zum Startpunkt
zurücklaufen.
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